Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Echo dunkler Tage

Das Echo dunkler Tage

Titel: Das Echo dunkler Tage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dolores Redondo
Vom Netzwerk:
Natürlich würde sie dort auch auf ihre Schwestern und Tante Engrasi treffen. Zum letzten Mal war sie am Weihnachtsabend zu Hause gewesen, Flora und Ros hatten sich damals heftig gestritten. Sie seufzte lautstark.
    »Wenn du nicht aufhörst, laut nachzudenken, werde ich nie einschlafen«, murmelte James schläfrig.
    »Tut mir leid, mein Schatz. Habe ich dich geweckt?«
    »Macht nichts«, sagte er lächelnd und setzte sich auf. »Aber willst du mir nicht erzählen, was dir durch den Kopf geht?«
    »Du weißt ja, morgen muss ich nach Elizondo. Ich habe mir überlegt, ob ich nicht einige Tage dortbleiben soll, dann kann ich besser mit den Familien und Freunden der Opfer reden und mir einen allgemeinen Eindruck verschaffen. Was meinst du?«
    »In Elizondo ist es bestimmt eiskalt.«
    »Kann schon sein, aber das macht mir nichts aus.«
    »Von wegen, ich kenne dich doch! Wenn du kalte Füße hast, kannst du nicht schlafen, und das wäre fatal für die Ermittlungen.«
    »James …«
    »Wenn du willst, komme ich mit und wärme sie dir«, schlug er vor und zog eine Augenbraue hoch.
    »Meinst du das ernst?«
    »Klar meine ich das ernst. Mit meiner Arbeit bin ich in letzter Zeit gut vorangekommen, und außerdem würde ich deine Schwestern und deine Tante gern mal wiedersehen.«
    »Wir würden bei ihnen übernachten.«
    »Prima.«
    »Ich werde sehr beschäftigt sein und kaum Zeit für dich haben.«
    »Dann spiele ich eben mit deiner Tante und ihren Freundinnen Mus oder Poker.«
    »Die werden dich ausnehmen wie eine Weihnachtsgans.«
    »Ich habe jede Menge Kohle.«
    Sie lachten, und Amaia überlegte laut, was sie alles in Elizondo unternehmen könnten, bis sie bemerkte, dass James eingeschlafen war. Sie küsste ihn sanft auf die Stirn und zog ihm die Decke über die Schultern. Dann stand sie auf und ging auf die Toilette. Als sie sich säuberte, bemerkte sie die roten Flecken auf dem Klopapier. Sie sah in den Spiegel, Tränen traten ihr in die Augen. Mit den offenen Haaren, die ihr bis über die Schultern fielen, sah sie jünger und verletzlicher aus als sonst. Wie das kleine Mädchen, das sie einmal gewesen war.
    »Wieder nichts, mein Schatz«, flüsterte sie und wusste, dass nichts sie würde trösten können. Sie nahm eine Beruhigungstablette und legte sich zitternd ins Bett.

6
    A uf dem Friedhof hatte sich fast das ganze Städtchen eingefunden. Viele hatten sich freigenommen, manche sogar ihren Laden zugemacht, um der Bestattung beizuwohnen. Das Gerücht, das zweite Mädchen könnte vom selben Täter ermordet worden sein, machte die Runde. Im Trauergottesdienst, der zwei Stunden zuvor in der Santiago-Kirche abgehalten worden war, hatte der Pfarrer in seiner Predigt vom Bösen gesprochen, das im Tal lauere. Und später, beim Responsorium am offenen Grab, war die Atmosphäre düster und angespannt gewesen, als schwebte über den Köpfen der Anwesenden ein Fluch, dem niemand entkommen konnte. Die Stille wurde lediglich von Ainhoas Bruder unterbrochen, der von seinen Cousinen gestützt werden musste, weil er von Weinkrämpfen geschüttelt wurde und tief aus seinem Inneren heisere Klagelaute aufstiegen. Die Eltern, die gleich daneben standen, schienen ihn überhaupt nicht zu beachten. Sie hielten sich eng umschlungen und weinten still, starrten unverwandt auf den Sarg, in dem die Leiche ihrer Tochter lag. Jonan Etxaide war auf ein altes Familiengrab gestiegen und filmte die Zeremonie von oben. Montes hatte sich hinter den Eltern postiert und beobachtete die Leute, die dem Grab am nächsten standen. Subinspector Zabalza hatte am Eingang Stellung bezogen und fotografierte aus einem getarnten Auto heraus alle, die sich dem Friedhof näherten, selbst die, die andere Gräber aufsuchten oder vor dem Eingang kleine Grüppchen bildeten und plauderten oder sich einfach nur an den Zaun lehnten.
    Amaia entdeckte Tante Engrasi, die sich bei Ros untergehakt hatte. Sie fragte sich, wo ihr Faulpelz von Schwager war; bestimmt lag er noch im Bett. Freddy hatte in seinem Leben nicht viel auf die Reihe gekriegt. Sein Vater war gestorben, als er fünf war, und eine hysterische Mutter und ein ganzes Heer von alten Tanten hatten ihn zu sehr verwöhnt. Am letzten Weihnachtsabend war er nicht einmal zum Essen erschienen. Ros hatte keinen Bissen angerührt, sondern die ganze Zeit mit aschgrauem Gesicht zur Tür gestarrt und immer wieder Freddys Nummer gewählt, dessen Handy aber ausgeschaltet gewesen war. Alle hatten versucht, die Sache

Weitere Kostenlose Bücher