Das Echo dunkler Tage
herunterzuspielen. Nur Flora hatte keine Gelegenheit ausgelassen, ihre Meinung über Freddy kundzutun, was schließlich in einen Streit ausgeartet war. Ros war während des Essens aufgestanden und gegangen, während Flora und ein resignierter Víctor noch den Nachtisch abgewartet hatten und dann ebenfalls aufgebrochen waren. Seither waren alle noch mehr miteinander verkracht als sonst.
Nachdem die Trauergäste Ainhoas Eltern ihr Beileid bekundet hatten, trat auch Amaia an das Grab. Friedhofsangestellte hatten gerade eine Platte aus grobem Marmor darübergeschoben, auf der Ainhoas Name noch nicht eingemeißelt war.
»Amaia.«
Sie hatte Víctor schon von weitem kommen sehen. Er hatte sich durch die Trauergemeinde gekämpft, die den Eltern hinterherströmte wie ein Hochwasser führender Fluss. Sie kannte ihn schon von klein auf, seit er und Flora ein Paar geworden waren. Obwohl die beiden schon seit zwei Jahren getrennt waren, würde Víctor immer ihr Schwager bleiben.
»Wie geht’s?«, fragte Víctor.
»Gut. Soweit das unter diesen Umständen möglich ist.«
»Oh, natürlich«, sagte er und sah betroffen zum Grab. »Ich freue mich trotzdem sehr, dich zu sehen.«
»Ich mich auch. Bist du allein hier?«
»Nein, mit Flora.«
»Ich habe euch gar nicht gesehen.«
»Wir dich schon …«
»Und wo ist meine Schwester?«
»Du kennst sie ja … Sie ist schon gegangen, nimm’s ihr nicht krumm.«
Tante Engrasi und Ros kamen den Kiesweg entlang auf sie zu. Víctor begrüßte sie herzlich und brach dann auf. Am Eingangstor drehte er sich noch einmal um und winkte ihnen zu. »Ich verstehe nicht, wie er es mit der aushält.«
»Tut er ja nicht, schließlich sind sie getrennt«, sagte Amaia.
»Von wegen! Sie hält ihn immer noch an der Leine, damit er sich ja keine andere Frau sucht.«
»Besser hätte man es nicht ausdrücken können«, befand Tante Engrasi.
»Ich werde mal zu ihr gehen, dann sprechen wir weiter.«
Die 1865 gegründete Süßwarenfabrik Mantecadas Salazar war eine der ältesten Navarras. Sechs Generationen hatte sie schon ernährt, und Flora, die die Nachfolge ihrer Eltern angetreten hatte, war es gelungen, dem Geschäft die nötigen Impulse zu geben, um sich auch in den neuen Zeiten halten zu können. An der Marmorfassade hing noch das Originalschild, aber die breiten Fensterläden aus Holz waren verschwunden. Stattdessen bestimmten getönte Fensterscheiben aus dickem Glas die Front. Amaia ging um das Gebäude herum zur Tür der Backstube, die während der Arbeitszeiten stets geöffnet war. Trotzdem klopfte sie an, bevor sie eintrat. Mitarbeiter verpackten gerade Gebäck und plauderten miteinander. Amaia kannte einige von ihnen, grüßte sie und ging dann weiter zu Floras Büro. Auf dem Weg dorthin sog sie tief den süßen Duft von gezuckertem Mehl und zerlassener Butter ein, der jahrelang ein fester Bestandteil ihres Lebens gewesen war; wie ein genetischer Abdruck hatte er sich ihr in Haut und Haaren festgesetzt. Ihre Eltern hatten die Veränderungen bereits eingeleitet, aber letztlich war es Flora gewesen, die sie mit fester Hand umgesetzt hatte. Bis auf den Holzofen hatte sie alle Backöfen ausgetauscht, und statt der alten Marmortische, auf denen noch ihr Vater Teig geknetet hatte, gab es jetzt nur noch welche aus rostfreiem Stahl. Die Teigspender hatten alle ein Pedal, die unterschiedlichen Bereiche waren durch makellos gewienerte Glasscheiben getrennt. Wäre da nicht der durchdringende Geruch nach Sirup gewesen, hätte man eher an einen Operationssaal gedacht als an eine Backstube. Im Gegensatz dazu war Floras Büro überraschend gemütlich. Ein Eichenschreibtisch war das einzige Möbelstück, das an Arbeit erinnerte. Den Empfangsbereich bildete ein großer rustikaler Herd mit Abzugsrohr und einer Arbeitsplatte aus Holz. Abgeschlossen wurde das Ensemble durch ein breites, geblümtes Sofa und eine moderne Espressomaschine.
Flora machte gerade Kaffee und stellte Tassen und Teller hin, als kämen gleich Gäste.
»Ich habe dich erwartet«, sagte sie, ohne sich umzudrehen.
»Dann ist das hier wohl der einzige Ort, an dem du wartest. Auf dem Friedhof habe ich dich nicht mal von hinten gesehen.«
»Ich habe eben wenig Zeit, mein liebes Schwesterlein, schließlich muss ich arbeiten.«
»Wie wir alle, Flora.«
»Na ja, die einen mehr, die anderen weniger. Ros oder besser gesagt Rosaura, wie sie jetzt genannt werden will, hat offenbar jede Menge Zeit.«
»Ich weiß nicht, was du meinst«,
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