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Das Echo dunkler Tage

Das Echo dunkler Tage

Titel: Das Echo dunkler Tage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dolores Redondo
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ins andere gefolgt. Ständig hatten sie was zu flüstern. Als das Auto voll war, wollte Ros noch einen Moment bleiben, um mit ihm zu reden.«
    »Du hättest sie nicht allein lassen dürfen.«
    »Ich dachte mir schon, dass du das sagen würdest. Aber was hätte ich tun sollen, Amaia? Sie war wild entschlossen. Und so wie er sich aufgeführt hat, schien er mir keine Bedrohung darzustellen, ganz im Gegenteil, er war kleinlaut und bockig wie ein Kind.«
    »Was er ja auch ist: ein verzogener Bengel«, legte sie nach. »Na gut, ich darf mich nicht verrückt machen. Die meisten tätlichen Übergriffe erfolgen in dem Augenblick, in dem die Frau die Beziehung beendet. Es ist wirklich nicht leicht, mit miesen Typen Schluss zu machen. Meistens wehren sie sich, heulen und flehen, weil sie genau wissen, dass sie ohne die Frau eine Null sind. Und wenn das nichts hilft, werden sie aggressiv.«
    »Wenn ich den Eindruck gehabt hätte, dass er den Macker spielen will, hätte ich sie nicht allein gelassen. Und selbst so habe ich gezögert. Aber Ros hat mir versichert, dass alles okay sei, zum Abendessen sei sie wieder da.«
    Amaia sah auf die Uhr. Bei Tante Engrasi wurde gegen elf zu Abend gegessen.
    »Wenn sie in einer halben Stunde noch nicht hier ist, fahre ich hin und hole sie ab, okay?«
    Amaia presste die Lippen zusammen und nickte. In diesem Augenblick hörten sie, wie die Eingangstür aufging. Ein kalter Luftzug wehte durchs Haus. Es war tatsächlich Ros. Sie ließ sich Zeit mit dem Aufhängen ihres Mantels, und als sie endlich das Wohnzimmer betrat, wirkte ihr Gesicht verzerrt, düster, aschgrau, aber auch gelassen, wie von jemandem, der sich dem Schmerz stellt. Sie begrüßte James, und Amaia spürte ein leichtes Zittern an ihrer Wange, als Ros sich zu ihr beugte und ihr einen Kuss gab. Dann ging sie zur Anrichte, nahm ein kleines, in schwarze Seide gewickeltes Bündel und setzte sich an den Spieltisch.
    »Tante Engrasi«, murmelte sie.
    Engrasi kam aus der Küche, trocknete sich an einem Geschirrtuch die Hände ab und setzte sich ihr gegenüber. Amaia brauchte nicht zu fragen, was es war, ja musste nicht einmal hinschauen, denn sie hatte dieses Set schon tausendmal gesehen. Es war das Tarot de Marseille, das ihre Tante benutzte, um die Karten zu befragen. Wie oft war sie dabei gewesen, als Engrasi sie gemischt, verteilt und zu Kreuzen oder Kreisen gelegt hatte. Auch sie selbst hatte schon oft die Karten befragt. Aber das war lange her, sehr lange.
    FRÜHJAHR 1989
    Sie war acht Jahre alt. Es war Mai, und sie hatte gerade die Erstkommunion empfangen. In den Tagen vor der Zeremonie hatte ihre Mutter ihr ungewöhnlich viel Aufmerksamkeit geschenkt, ja sie geradezu damit überhäuft, was sie nicht gewohnt war. Rosario war eine stolze Frau. Und sie liebte es, ihren Wohlstand zur Schau zu stellen, was damals auf dem Dorf durchaus üblich war. Eine Rolle spielte auch, dass sie sich immer als die Fremde gefühlt hatte, die sich den begehrtesten Junggesellen Elizondos geschnappt hatte. Die Geschäfte liefen gut, und sie verwendete alles Geld darauf, diesen Erfolg zu zeigen. Jede Tochter hatte ein eigenes Erstkommunionkleid bekommen, so auch sie, ein Modell, das anders war als das ihrer Schwestern, damit erst gar nicht der Verdacht aufkam, es könnte dasselbe sein. Sie war beim Friseur gewesen, wo man ihr die blonden, fast hüftlangen Haare gekämmt hatte. Ihre schönen Locken schienen dem Kranz aus weißen Blümchen zu entspringen, der ihren Kopf krönte. Sie konnte sich nicht erinnern, jemals so glücklich gewesen zu sein.
    Am Tag nach der Erstkommunion setzte ihre Mutter sie auf die Küchenbank, flocht ihre Haare zu einem Zopf und schnitt ihn ab. Amaia begriff nicht, was mit ihr geschah, bis sie auf dem Tisch den dicken Zopf sah, der aussah wie ein unbekanntes Tierchen. Sie hatte sich gefühlt, als hätte man sie bestohlen, und während sie sich den Kopf abgetastet hatte, waren ihr heiße Tränen in die Augen geschossen.
    »Stell dich nicht so an«, hatte ihre Mutter sie angeblafft, »der Sommer steht vor der Tür, da schwitzt du nur mit so viel Haaren. Wenn du groß bist, lässt du dir eine elegante Perücke machen wie die Damen von San Sebastián.«
    Sie konnte sich noch gut an die Worte ihres Vaters erinnern, der ihr Weinen gehört hatte und in die Küche gekommen war.
    »Rosario, um Gottes willen! Was hast du getan?« Er hatte geseufzt, Amaia in die Arme genommen und aus der Küche getragen, als müssten sie vor einem Feuer

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