Das Echo dunkler Tage
mit der Gabe ausgestattet hatte, dieses Böse zu bekämpfen. Sie betrachtete das Glücksrad, das Amaia symbolisierte. Das Rad wurde von Affen ohne Sinn und Verstand in Gang gehalten, die alles jederzeit auf den Kopf stellen konnten. Bald war Amaias Geburtstag, und damit näherte sich der Moment, in dem der herrschende Planet in ihr Zeichen eintreten würde, der Moment, in dem alles, was geschehen musste, geschehen würde.
Plötzlich fühlte sie sich erschöpft und musste sich setzen. Ihr Blick ging zum Gesicht des schlafenden Mädchens, das blass zwischen den schief geschnittenen Haaren hervorleuchtete.
16
E ngrasi wickelte die Tarotkarten aus dem Seidentuch und gab sie Rosaura.
»Sollen wir lieber rausgehen?«, fragte Amaia.
»Nein, bleibt ruhig, es dauert nur zehn Minuten, danach können wir essen.«
»Ich meinte eher, dass du ihr vielleicht etwas sagen wirst, das wir nicht hören sollen.«
»Nein, nein, ich bleib nur hier, weil man sich die Karten nicht selber legen soll. Rosaura braucht mich eigentlich nicht mehr. Sie kennt sich mit Tarot inzwischen genauso gut aus wie ich.«
»Ros, das wusste ich ja gar nicht.«
»Ich habe erst vor kurzem damit angefangen. Wie du siehst, hat sich mein Leben ganz schön verändert.«
»Ich weiß nicht, wieso du dich wunderst. Alle meine Nichten haben diese Gabe, sogar Flora. Und du bist die Begabteste, das habe ich dir schon immer gesagt.«
»Stimmt das?«, fragte James neugierig.
»Nein«, wehrte sich Amaia.
»Natürlich stimmt das, mein Lieber, deine Frau ist von Natur aus höchst empfänglich. Jede muss für sich den richtigen Weg finden, um hellseherische Fähigkeiten zu entwickeln, und Amaia ist da am weitesten. Nimm nur ihren Beruf: Bei der Polizei geht es nicht nur um Methoden, Beweise, Fakten, es geht vor allem um Wahrnehmung, um die Fähigkeit, auch das Verborgene zu sehen.«
»Ich würde eher sagen, es kommt auf den gesunden Menschenverstand an. Und auf eine Wissenschaft namens Kriminaltechnik.«
»Schon, aber auch auf den sechsten Sinn, und den hat man nur mit dieser besonderen Empfänglichkeit. Wenn man jemandem gegenübersitzt, muss man spüren, ob er leidet, ob er lügt, ob er etwas verheimlicht, ob er sich schuldig fühlt, gequält, beschmutzt oder den anderen überlegen. Der Unterschied zwischen dir und mir ist, dass die Leute zu mir freiwillig kommen.«
»Klingt logisch«, befand James. »Vielleicht bist du tatsächlich deshalb Polizistin geworden, weil du diese natürliche Empfänglichkeit hast, wie deine Tante sagt.«
»Es ist so«, bekräftigte Engrasi.
Ros gab der Tante den durchgemischten Stapel. Engrasi nahm einige Karten von oben weg und legte sie zum klassischen Kreis aus, genannt die Welt: Zwölf Karten, angeordnet wie eine Uhr, bei der der Frager die zwölf symbolisierte. Sie sagte kein Wort, sah Ros unverwandt an, die wiederum in sich versunken die Karten betrachtete.
»Da könnten wir noch etwas tiefer gehen«, schlug Ros vor und tippte auf eine der Karten.
Engrasi, die gespannt gewartet hatte, lächelte zufrieden.
»Natürlich«, antwortete sie, sammelte die Karten ein und legte sie zurück auf den Stapel. Sie gab ihn Ros, die ihn schnell mischte. Diesmal ordnete Engrasi sechs Karten zu einem Kreuz an, aus denen je nach Frage auch zehn werden konnten. Nachdem sie sie umgedreht hatte, lächelte sie verhalten, weil sie sich einerseits bestätigt sah, aber andererseits Widerwillen empfand. Mit ihrem dünnen Zeigefinger deutete sie auf eine Karte und sagte:
»Da hast du’s.«
»Verdammt!«, flüsterte Rosaura.
»Verdammt, ja. Und sonnenklar.«
James hatte die ganze Zeit amüsiert, aber auch gespannt zugeschaut, wie ein Kind in der Geisterbahn. Während Engrasi und Ros die Karten legten, hatte er sich immer wieder zu Amaia gebeugt und ihr Fragen zugeflüstert.
»Warum soll man sich nicht selbst die Karten legen?«
»Weil man dann nicht mehr so objektiv ist, weil dann Ängste, Wünsche und Vorurteile uns beeinflussen. Außerdem bringt es Unglück, zieht das Böse an.«
»Das gilt auch für die Polizei. Ein Kommissar sollte nicht in einem Fall ermitteln, der ihn selbst betrifft.«
Amaia antwortete nicht. Es lohnte sich nicht, mit James darüber zu diskutieren. Sie wusste, dass er von ihrer Tante und dem Kartenlegen fasziniert war. Von Anfang an hatte er es als eine »Eigentümlichkeit« akzeptiert, als wäre Tante Engrasi eine bekannte Schauspielerin im Ruhestand, auf die man stolz sein konnte. Sie hatte gerade das Gefühl
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