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Das Echo dunkler Tage

Das Echo dunkler Tage

Titel: Das Echo dunkler Tage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dolores Redondo
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flüchten. »Was hast du getan, Rosario? Warum machst du solche Sachen?«, hatte er geflüstert, während er Amaia in den Armen gewiegt und seine Tränen ihr feucht auf den Kopf getropft waren. Er hatte sie so vorsichtig aufs Sofa gelegt, als hätte sie Knochen aus Glas. Dann war er zurück in die Küche gegangen. Sie wusste, was jetzt kommen würde: Ihr Vater würde vorwurfsvoll flüstern, ihre Mutter würde erstickte Schreie ausstoßen, wie ein Tier, das man ertränkt; dann würde er auf sie einreden, sie anflehen, die kleinen weißen Pillen zu nehmen, die machten, dass ihre Mutter sie nicht hasste. Sie fragte sich, warum sie schuld daran war, dass sie nicht ihrer Mutter, sondern ihrer verstorbenen Großmutter ähnlich war, der Mutter ihres Vaters. War das Grund genug, eine Tochter nicht zu lieben? Ihr Vater erklärte ihr, dass es ihrer Mutter nicht gut gehe, dass sie Tabletten nehmen müsse, damit sie sie sich ihr gegenüber nicht so komisch benehme, aber sie hatte sich immer elender gefühlt.
    Sie hatte ihren Anorak angezogen und war nach draußen geflüchtet, wo es schön still war. Sie rannte die menschenleeren Straßen entlang und rieb sich wütend die Augen, damit endlich die Tränen nicht mehr flossen. Als sie bei Tante Engrasi ankam, klingelte sie nicht, sondern stieg auf den großen Buntnesselntopf, der so hoch war wie sie selbst, und holte den Schlüssel herunter, der auf dem Türsturz lag. Sie rief nicht nach ihrer Tante, suchte auch nicht nach ihr. Ihr Weinen ebbte sofort ab, als sie das schwarze Seidenbündel erblickte. Sie setzte sich an den Tisch, wickelte es auf und begann die Karten zu legen, wie sie es ihre Tante schon so oft hatte tun sehen.
    Ihre Hände waren plump, aber ihr Kopf war klar. Sie konzentrierte sich voll und ganz auf die Frage, die sie stumm formulierte, war so versunken in die Seidigkeit und den Moschusduft der Karten, dass sie Tante Engrasi nicht bemerkte, die in der Küchentür stand und sie verblüfft beobachtete. Sie zog eine Karte nach der anderen aus dem Stapel und legte sie vor sich hin, bis sie einen Kreis bildeten wie eine Uhr. Sie betrachtete sie lange, ließ den Blick von einer zur anderen wandern, versuchte zu ergründen, welche Antwort diese Kombination für sie bereithielt. Weil Engrasi die mystische Konzentration nicht stören wollte, näherte sie sich ganz langsam und fragte leise:
    »Was sagen die Karten?«
    »Das, was ich wissen wollte«, antwortete Amaia, ohne aufzublicken, als hätte sie die Stimme nur in ihrem Kopf vernommen.
    »Und was wolltest du wissen, mein Schatz?«
    »Ob es irgendwann aufhört.«
    Amaia zeigte auf die Karte, die auf Position zwölf Uhr lag. Es war das Glücksrad.
    »Eine große Veränderung kündigt sich an, alles wird besser«, erklärte sie.
    Engrasi atmete tief durch, sagte aber nichts.
    Amaia zog eine neue Karte, legte sie in die Mitte des Kreises und lächelte.
    »Siehst du, irgendwann gehe ich von hier fort und kehre nie mehr wieder.«
    »Amaia, du weißt doch, dass du nicht die Karten legen sollst. Wann hast du das überhaupt gelernt?«
    Amaia antwortete nicht, sondern zog eine weitere Karte und legte sie über Kreuz auf die vorige. Es war der Tod.
    »Das ist mein Tod, Tante. Ich werde also erst wiederkehren, wenn ich tot bin, um hier begraben zu werden, neben Oma Juanita.«
    »Das ist nicht dein Tod, Amaia. Aber es stimmt, der Tod wird dich hierher zurückbringen.«
    »Das verstehe ich nicht. Wer wird sterben? Wer wird mich hierher zurückbringen?«
    »Zieh noch eine Karte, und leg sie neben die hier«, forderte die Tante sie auf. »Der Teufel.«
    »Der Tod und das Böse«, flüsterte Amaia.
    »Bis dahin wird noch viel Zeit vergehen, die Dinge werden sich nach und nach klären. Noch ist es zu früh, noch bist du zu jung, um deine eigene Zukunft zu lesen.«
    »Ich, zu jung? Die Zukunft ist schon längst da«, sagte Amaia und zog die Kapuze vom Kopf. Engrasi erschrak, versuchte Amaia zu trösten und überredete sie zu Milch und Keksen. Danach saß Amaia noch eine Weile vor dem Kamin und sah ins Feuer, das brannte, obwohl es schon Mai war, vielleicht um einen eisigen Winter zu bekämpfen, der über ihnen schwebte wie ein Vorbote des Todes.
    Die Karten lagen nach wie vor auf dem Tisch und verkündeten, dass diesem Mädchen, das sie mehr liebte als alles andere auf der Welt, diesem Mädchen, das die natürliche Gabe besaß, das Böse zu spüren, entsetzliche Dinge zustoßen würden. Sie hoffte nur, dass der wohlmeinende Gott sie auch

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