Das Echo dunkler Tage
gehabt, von etwas ausgeschlossen zu sein, als hätte sie tatsächlich das Zimmer verlassen. Von diesem blinden Einverständnis, diesem Wissen, das nur Engrasi und Ros teilten. Es war nicht immer so gewesen.
»Das war’s«, sagte Rosaura.
Engrasi sammelte die Karten ein und wickelte sie sorgfältig in das Seidentuch, das sie an den Enden zusammenknotete. Dann legte sie es zurück an seinen Platz in der Vitrine.
»Und jetzt wird gegessen«, verkündete sie.
»Ich sterbe vor Hunger«, sagte James übertrieben.
»Wie oft du schon vor Hunger gestorben bist!« Amaia lachte. »Ich weiß gar nicht, wo du das immer alles hinstopfst.«
James deckte den Tisch. Als Amaia ihm die Teller brachte, beugte er sich zu ihr und flüsterte ihr ins Ohr:
»Wenn wir allein sind, sage ich dir genau, wo ich das alles hinstopfe.«
»Schschsch!« Sie legte einen Zeigefinger auf den Mund und sah in Richtung Küche.
Engrasi brachte eine Flasche Wein, und alle setzten sich an den Tisch.
»Köstlich, Tante«, sagte Rosaura.
»Ich musste Jonan vorhin fast rauswerfen, sonst wäre er in der Küche über den Braten hergefallen«, erzählte Amaia und schenkte sich Wein ein.
»Der Arme«, sagte Engrasi. »Warum hast du ihn nicht eingeladen? Ist doch genug da. Außerdem mag ich den Jungen. Er ist Historiker, oder?«
»Anthropologe und Archäologe«, präzisierte James.
»Aber vor allem Polizist«, ergänzte Rosaura.
»Stimmt, und zwar ein guter. Ihm fehlt es noch ein bisschen an Erfahrung, und sein Ansatz ist vielleicht etwas akademisch, aber es ist interessant, mit ihm zusammenzuarbeiten. Außerdem hat er gute Manieren.«
»Im Gegensatz zu Fermín Montes«, bemerkte Tante Engrasi.
»Ach ja, Fermín«, seufzte Amaia tief.
»Hast du Ärger mit ihm?«
»Hätte ich vielleicht, wenn er sich denn blicken ließe. In letzter Zeit sind alle irgendwie komisch, als würde ein Sonnensturm den gesunden Menschenverstand lahmlegen. Vielleicht liegt es auch an diesem elend langen Winter oder an diesem Fall. Alles ist so …«
»Kompliziert?«, vervollständigte Engrasi den Satz.
»Es geht alles so schnell, zwei Tote innerhalb von zwei Tagen. Ihr wisst, dass ich euch keine Einzelheiten verraten darf, aber die Analyseergebnisse sind total verwirrend. Es könnte sogar sein, dass sich hier im Tal ein Bär herumtreibt.«
»Ja, das steht sogar in der Zeitung«, bemerkte Ros.
»Wir haben Experten darauf angesetzt, aber die Förster glauben nicht, dass es sich um einen Bären handelt.«
»Ich auch nicht«, sagte Engrasi. »Hier wurde seit Jahrhunderten kein Bär mehr gesichtet.«
»Aber irgendwas ist da, irgendwas Großes.«
»Ein Tier?«, fragte Ros.
»Oder ein Basajaun. Einer der Förster behauptet, er hätte vor Jahren einen gesehen. Was meint ihr dazu?«
»Es wollen noch andere Leute einen gesehen haben«, sagte Ros.
»Im 18. Jahrhundert vielleicht, aber doch nicht heutzutage«, zweifelte Amaia.
»Ein Basajaun. Was ist das? Eine Art Waldgeist?«, fragte James.
»Nein, Basajaunak gibt es wirklich. Das sind menschenartige Wesen, über zweieinhalb Meter groß, mit breiten Schultern, langer Mähne und viel Körperbehaarung. Basajaunak beschützen den Wald. Der Legende nach sorgen sie dafür, dass sein Gleichgewicht erhalten bleibt. Sie traten zwar nicht oft in Erscheinung, aber wenn, dann waren sie immer nett zu den Menschen. Basajaunak wachten nachts über die Schafe, und wenn sich ein Wolf näherte, weckten sie den Schäfer mit lauten Pfiffen, die über Kilometer zu hören waren. Oder sie warnten die Schäfer, wenn ein Gewitter im Anzug war, damit sie die Herde in die nächstgelegene Höhle treiben konnten. Und die Schäfer dankten es ihnen, indem sie Brot, Wein, Nüsse oder Schafsmilch hinterließen. Basajaunak essen nämlich kein Fleisch«, erklärte Ros.
»Faszinierend«, kommentierte James. »Erzähl weiter!«
»Es gibt da noch ein Wesen wie aus Tausendundeiner Nacht, eine launische Göttin namens Mari. Sie lebt in Höhlen und auf Felsen, hoch in den Bergen. Mari ist wesentlich älter als das Christentum und symbolisiert die Mutter Natur und die Macht der Erde. Sie wacht über die Ernten, über die Geburten von Vieh, außerdem verleiht sie Fruchtbarkeit. Sie kann sich in jede Naturgestalt verwandeln, in einen Felsen, einen Zweig, einen Baum, und erinnert darin immer an eine Frau. Am liebsten tritt sie als schöne, elegant wie eine Königin gekleidete Dame auf. Man weiß nie, dass sie es ist, bis sie wieder verschwunden ist.«
James
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