Das Echo dunkler Tage
lächelte begeistert. Ros fuhr fort:
»Sie ist überall und nirgends zu Hause, immer unterwegs, von Aia nach Amboto, von Txindoki hierher. Sie wohnt an Orten, die wie einfache Felsen oder Höhlen aussehen, aber in Wahrheit prächtig ausgestattet sind. Wenn man sie um einen Gefallen bitten will, muss man am Eingang einer ihrer Höhlen eine Gabe ablegen. Und wenn man ein Kind will, muss man zu einem Felsen gehen, der so aussieht wie die Dame, in die Mari sich manchmal verwandelt, um den Weg zu bewachen. Dort legt man einen Stein ab, den man von zu Hause mitgebracht hat, und geht weg, ohne sich noch einmal umzudrehen, bis man den Felsen nicht mehr sehen kann. Ist das nicht eine tolle Geschichte?«
»Allerdings«, flüsterte James gebannt.
»Alles nur Mythologie«, wandte Amaia skeptisch ein.
»Mag sein, aber die Mythologie beruht auf einem jahrhundertealten Glauben, Schwesterherz.«
»Du meinst wohl Aberglauben.«
»Amaia, was redest du denn da! Die baskische Mythologie ist schriftlich belegt. Und sie wurde von angesehenen Gelehrten wie Pfarrer Barandiaran untersucht, und das war kein leichtgläubiger Bauer, sondern ein angesehener Anthropologe. Manche dieser alten Sitten haben sich bis heute erhalten. Im Süden von Navarra, in Ujué, gibt es zum Beispiel eine Kirche, zu der pilgern Frauen, die ein Kind bekommen möchten. Sie legen einen Stein ab, den sie von zu Hause mitgebracht haben, und beten zu der Jungfrau des Ortes. Und auch schon vor dem Bau der Kirche pilgerten Frauen dorthin, nur dass sie damals den Stein in eine Grotte oder tiefe Felsspalte warfen. Das Ritual ist dafür berühmt, dass es wirkt. Und jetzt sag mir, was katholisch, christlich oder logisch daran sein soll, einen Stein von zu Hause mitzunehmen und die heilige Jungfrau um ein Kind zu bitten. Wahrscheinlich war die Kirche einfach klug genug, lieber an dieser Stelle eine Kapelle zu errichten, statt vergeblich gegen die Sitten der Leute anzukämpfen. Sie hat schlicht aus einem heidnischen Ritus einen katholischen gemacht, wie mit Weihnachten.«
»Dass Pfarrer Barandiaran die Geschichten gesammelt hat, bedeutet nur, dass sie weit verbreitet waren, aber nicht, dass sie wahr sind«, entgegnete Amaia.
»Was ist wirklich wichtig, Amaia: dass etwas wahr ist oder dass viele Menschen daran glauben?«
»Das sind doch alles nur Dorfgeschichten, die irgendwann in Vergessenheit geraten werden. Glaubst du im Ernst, dass im Zeitalter von Handy und Internet noch jemand an diese zugegebenermaßen hübschen Geschichten glaubt?«
Engrasi hüstelte.
»Ich wollte dich nicht beleidigen, Tante«, sagte Amaia entschuldigend.
»Der Glaube hat es schwer im Zeitalter des Internet. Aber was nützt einem die tollste Technik, wenn sich ein Monster herumtreibt, das kleine Mädchen tötet und sie in den Fluss wirft. Die Welt hat sich nicht sehr verändert, sie ist immer noch ein dunkler Ort, an dem böse Geister um unser Herz schleichen, an dem das Meer ganze Schiffe verschluckt und Frauen beten, um schwanger zu werden. Solange Dunkelheit herrscht, ist Hoffnung nötig, und solange Hoffnung nötig ist, hat dieser Glaube einen Wert. Wir ritzen ein Kreuz in den Brotteig oder hängen eine Eguzkilore oder ein Hufeisen an die Tür, um das Haus vor allem Bösen zu schützen. Wir lassen unsere Tiere am Tag des heiligen Antonius segnen oder bitten San Blas, uns vom Husten zu befreien. Heute mag uns das alles unsinnig erscheinen , aber zu Beginn des 20. Jahrhunderts grassierte in ganz Europa die Grippe und raffte die Menschen dahin, und der Ausgangspunkt dieser Epidemie war hier. Wir Menschen haben schon immer um Schutz gefleht, wenn wir uns den Kräften der Natur ausgesetzt sahen. Es ist noch nicht lange her, da war es unvorstellbar, nicht im Einklang mit der Natur zu leben, im Einklang mit Mari, mit den Heiligen und Jungfrauen des Christentums. Und in dunklen Zeiten greift man auf die alten Formeln zurück.«
Amaia schwieg, als müsste sie das alles erst verarbeiten.
»Tante Engrasi, ich verstehe ja, was du mir sagen willst, aber dass eine Frau zu einer Höhle oder zu einem Felsen wandert, um einen Geist um ein Kind zu bitten, das scheint mir doch starker Tobak. Ich glaube, eine Frau, die alle ihre Sinne beisammenhat, sucht sich eher einen guten Samenspender.«
»Und wenn das nicht klappt?«
»Einen Spezialisten für künstliche Befruchtung«, mischte James sich ein und sah Amaia in die Augen.
»Und wenn das auch nicht klappt?«, fragte Engrasi weiter.
»Dann bleibt nur
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