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Das Echo dunkler Tage

Das Echo dunkler Tage

Titel: Das Echo dunkler Tage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dolores Redondo
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noch das Prinzip Hoffnung«, gab Amaia sich geschlagen.
    Tante Engrasi nickte lächelnd.
    »Diesen sagenumwobenen Ort würde ich mir gern mal ansehen«, sagte James. »Ist das weit weg? Könntest du mich hinführen?«
    »Natürlich«, antwortete Ros, »wenn du willst, gleich morgen, vorausgesetzt, es regnet nicht. Hast du auch Lust, Tante?«
    »Für solche Märsche bin ich zu alt. Der Ort liegt übrigens ganz in der Nähe der Stelle, an der Carla Huarte gefunden wurde. Den solltest du dir auch mal ansehen, Amaia, und sei es nur aus Neugier.«
    James blickte sie fragend an.
    »Morgen ist die Beerdigung von Anne Arbizu, außerdem muss ich zu Flora.« In diesem Moment fiel ihr etwas ein. Sie holte ihr Handy heraus und wählte die Nummer von Montes. Die Mailbox: Sie wurde aufgefordert, eine Nachricht zu hinterlassen, die als SMS verschickt würde.
    »Montes, hier ist Salazar, rufen Sie mich an«, sagte sie. »Oder besser gesagt: Amaia«, fügte sie hinzu, weil ihr bewusst geworden war, dass ihre Schwester ja auch Salazar hieß.
    Ros erhob sich und wünschte allen eine gute Nacht. James gab Tante Engrasi einen Kuss auf die Wange und legte Amaia einen Arm um die Taille.
    »Wir sollten auch langsam ins Bett.«
    Engrasi rührte sich nicht von der Stelle.
    »James, geh du schon mal hoch. Amaia, bleib noch ein bisschen, ich will dir was erzählen. Aber mach dieses Licht aus, das blendet ja fürchterlich. Und schenk uns zwei Gläschen von dem Orujo de café ein, und setz dich zu mir.« James gab Amaia einen Kuss und verließ den Raum.
    »So, und dass du mich jetzt ja nicht unterbrichst!« Tante Engrasi sah ihrer Nichte in die Augen, dann begann sie zu erzählen.
    »Kurz vor meinem sechzehnten Geburtstag habe ich einen Basajaun gesehen. Ich ging jeden Tag in den Wald, um bis in die Dämmerung hinein Brennholz zu sammeln. Es waren harte Zeiten damals, und wir brauchten Brennholz für alles Mögliche, für die Öfen in der Backstube, für den Kamin zu Hause, zum Verkaufen. Oft musste ich so viel schleppen, dass ich fast zusammengebrochen bin, und manchmal habe ich das Holz vor lauter Frust an den Wegrand geschmissen. Als ich wieder mal weinend vor Erschöpfung dasaß und mich fragte, wie um alles in der Welt ich das Holz bis ins Dorf schaffen sollte, hörte ich ihn. Erst dachte ich, es wäre ein Hirsch, die sind auch so leise. Aber dann habe ich ihn gesehen. Meine Güte, war der groß! Und behaart! Die Haare wuchsen ihm bis zu den Hüften. Er kratzte mit einem Stöckchen Rinde von einem Baum, die er sich dann in den Mund steckte, als wäre sie eine Delikatesse. Plötzlich drehte er sich um und schnüffelte wie ein Kaninchen. Er wusste ganz genau, dass ich in der Nähe war, da bin ich mir sicher. Als ich mich beruhigt hatte und wieder klar denken konnte, kam ich zu dem Schluss, dass er meinen Geruch kannte, weil er zum Wald gehörte, schließlich verbrachte ich mein halbes Leben dort. Sobald sich morgens der Nebel lichtete, stieg ich mit meinen beiden Schwestern den Berg hinauf und arbeitete bis zum Mittag. Ich machte nur kurz Pause, um die warme Mahlzeit zu essen, die uns Mutter vorbeibrachte. Sie und meine ältere Schwester schafften dann das Holz, das wir bis dahin gesammelt hatten, auf einem kleinen Esel runter ins Tal, während deine Mutter und ich noch bis zur Dämmerung weiterarbeiteten. Mein Geruch war ein Teil dieses Waldes wie der anderer Tiere auch. Außerdem verrichteten wir unser Geschäft immer an der gleichen Stelle, um beim Holzsammeln nicht reinzutreten. Der Basajaun stand also schnüffelnd da, erkannte mich am Geruch und raspelte dann weiter Rinde vom Baum. Allerdings drehte er sich immer wieder nervös um, als ob er hinter sich etwas spürte. Ein paar Minuten später brach er auf, blieb ab und zu stehen, um kleine Stückchen Rinde oder Flechten abzuschaben. Ich stand auf und konnte das Holz auf einmal wieder mühelos tragen. Woher ich die Kraft dazu hatte, weiß ich nicht, jedenfalls war es nicht die Angst. Ich war zwar erschrocken, das schon, aber eher wie jemand, der Zeuge eines Wunders geworden ist. Ich weiß nur noch, dass ich leichenblass war, als ich daheim ankam, als hätte ich mein Gesicht in einem Teller Mehl versenkt; und dass ein kalter, gallertartiger Schweiß meine Haare verklebte. Deine Großmutter hat mich gleich ins Bett gesteckt und mir einen Pasmo-Belarra- Tee gekocht. Ich habe natürlich niemandem erzählt, was ich erlebt hatte, weil ich ahnte, dass meine Eltern mir nicht glauben würden. Aber

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