Das Echo dunkler Tage
ich wusste, was ich gesehen hatte. Ich wusste, dass es ein Basajaun war. Wie alle Kinder hatte ich jede Menge Geschichten über Basajaunak und andere Wesen gehört, magische Geschichten: dass sie seit jeher im Wald wohnten, lange bevor Elizondo gegründet wurde. Am Sonntag darauf habe ich mein Erlebnis dann doch jemandem erzählt, nämlich dem Pfarrer, in der Beichte. Aber der war ein überzeugter Jesuit, Don Serafín hieß er. Er schimpfte mich eine Lügnerin, und als wäre das noch nicht genug, verließ er den Beichtstuhl und verpasste mir eine Kopfnuss, dass mir die Tränen kamen. Dann hielt er mir eine Predigt darüber, wie gefährlich es sei, mir solche Geschichten auszudenken, und bläute mir ein, ja mit niemandem darüber zu sprechen, auch nicht mit meiner Familie. Zur Strafe musste ich so viele Vaterunser, Ave-Marias, Glaubensbekenntnisse und Schuldbekenntnisse aufsagen, dass ich Wochen dafür brauchte. Dadurch ist mir jede Lust vergangen, es jemandem zu erzählen. Beim Holzsammeln machte ich ab da so viel Lärm, dass ich jedes Tier im Umkreis von zwei Kilometern aufschreckte. Und dazu sang ich das Te Deum auf Latein, und zwar so laut, dass ich am Ende des Tages ganz heiser war. Ich habe nie wieder einen Basajaun gesehen, nur seine Spuren entdeckt. Vielleicht waren es aber auch Spuren von Hirschen oder Bären, die es ja damals noch gab. Aber eines wusste ich: Der Basajaun verstand mein Singen als Signal und blieb auf Abstand. Er spürte meine Anwesenheit und duldete mich. Aber er wich mir aus so wie ich ihm.«
Amaia betrachtete ihre Tante, deren blaue Augen, die einmal so strahlend gewesen waren wie ihre eigenen, nun aber verblasst waren wie abgenutzte Saphire. Noch aber verriet ihr Glanz einen klugen, wachen Verstand.
»Tante Engrasi«, begann sie zögerlich, »ich glaube dir ja, dass sich alles so abgespielt hat, wie du es erzählst, aber du musst zugeben – und das meine ich nicht abwertend –, dass du schon immer viel Fantasie hattest. Versteh mich nicht falsch, du weißt, dass ich das nicht schlimm finde. Aber hier geht es um Mord, und deshalb muss ich denken wie eine Ermittlerin.«
»Denken ist auch deine Stärke«, lobte Engrasi ihre Nichte.
»Hast du dir überlegt, ob das, was du damals gesehen hast, auch was anderes gewesen sein könnte? Schließlich waren die Mädchen deiner Generation, vor allem auf dem Land, noch nicht von Fernsehen oder gar Internet geprägt, sondern von Legenden. Betrachte es mal mit meinen Augen. Gerade mal ein Teenager, den ganzen Tag im Wald, erschöpft, dehydriert, entkräftet vom Weinen, vielleicht sogar eingenickt: die perfekte Kandidatin für eine Marienerscheinung wie im Mittelalter oder für eine Entführung durch Außerirdische wie in den Siebzigern.«
»Ich habe nicht geträumt, ich war so wach wie jetzt. Und ich habe gesehen, was ich gesehen habe. Aber gut, ich habe deine Reaktion erwartet.«
Amaia sah sie augenzwinkernd an. Engrasi lächelte, zeigte ihre perfekten dritten Zähne, was Amaia aus irgendeinem Grund immer zum Lachen brachte und mit einem warmen Gefühl der Zuneigung erfüllte. Engrasi hob ihren knochigen Finger, an dem viele Ringe steckten, und zeigte auf sie.
»Und weil ich genau weiß, wie dein Köpfchen funktioniert, habe ich vorgesorgt: Es gibt noch einen weiteren Zeugen.«
Amaia sah sie misstrauisch an.
»Wen? Eine deiner Pokerfreundinnen?«
»Jetzt hör erst mal zu, bevor du gleich wieder alles anzweifelst. Vor sechs Jahren, irgendwann im Winter, hat nach der Abendmesse Carlos Vallejo vor meiner Tür gestanden und auf mich gewartet.«
»Mein Mathelehrer?« Obwohl sie Carlos Vallejo seit Jahren nicht mehr gesehen hatte, hatte sie sein Bild vor Augen: der gut geschnittene Baumwollanzug, der perfekt gestutzte Bart, die grauen, mit Pomade nach hinten gekämmten Haare, der starke Duft nach Aftershave.
»Genau der, mein Fräulein.« Engrasi lächelte, als sie sah, dass Amaias Interesse geweckt war. »Er trug seine Jagdmontur, war völlig durchnässt und verdreckt, sogar seine Flinte hatte er dabei, was ich damals ziemlich merkwürdig fand, schließlich war Winter, es wurde früh dunkel, und um diese Uhrzeit kam man nicht von der Jagd zurück. Auch das mit den nassen Sachen war seltsam, denn es hatte tagelang nicht geregnet. Außerdem war er leichenblass im Gesicht und hatte rote Flecken, als hätte er es gerade mit kaltem Wasser gewaschen. Dass er ein passionierter Jäger war, wusste ich, denn ich war ihm schon mehrmals begegnet, wenn er
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