Das Echo dunkler Tage
mit dem Auto aus den Bergen kam, aber dass er in voller Jagdmontur im Dorf auftauchte, das hatte ich noch nie erlebt. Erinnerst du dich noch, wie ihn alle genannt haben?«
»Den Dandy«, flüsterte Amaia.
»Den Dandy, genau. Und dieser Dandy stand nun mit verdreckten Hosen und Stiefeln vor mir. Ich habe ihm einen Kamillentee gekocht, und als ich ihm die Tasse in die Hand drückte, fiel mir auf, dass sie ganz zerkratzt und die Fingernägel schwärzer waren als die eines Köhlers. Ich habe einfach gewartet, bis er mir von selber erzählen wollte, was passiert war.«
Amaia nickte, weil sie diese Strategie oft selber anwandte.
»Eine Weile saß er nur da und schaute verloren in seine Tasse. Dann nahm er einen großen Schluck, sah mir in die Augen und sagte mit all seiner Eleganz und Höflichkeit: ›Engrasi, ich hoffe, du verzeihst mir, dass ich mich in diesem Zustand in dein Haus gewagt habe.‹ Er blickte sich um, als würde er erst in diesem Augenblick bemerken, wo er überhaupt war. ›Seit ich dich kenne, und ich kenne dich jetzt schon viele Jahre, bin ich noch nie zu dir nach Hause gekommen.‹ Ich wusste, dass er eigentlich ›habe ich dich noch nie um Rat gefragt‹ sagen wollte. Ich nickte langsam, wartete ab, bis er von selbst fortfuhr. ›Du bist wahrscheinlich überrascht, mich hier zu sehen, aber ich wusste nicht, an wen ich mich wenden sollte. Da fiel mir ein, dass du …‹ Er zögerte und sagte dann: ›Ich habe heute Morgen im Wald einen Basajaun gesehen.‹«
17
D ie Tafel im Kommissariat war übersät mit Diagrammen, deren Schnittmenge die Fotos der drei Mädchen bildeten. Jonan ging die Berichte der Rechtsmedizin durch, während Amaia an der warmen Tasse nippte, an der sie sich geradezu festhielt. Wie hypnotisiert starrte sie auf die Gesichter, als könnte sie mit Blicken ein Elixier herauspressen, die Essenz der Seelen, die nicht mehr in diesen Mädchen mit den toten Augen waren.
»Inspectora Salazar«, unterbrach sie Iriarte. Als sie erschrak, lächelte er ihr beruhigend zu. Was für ein netter Mensch, dachte Amaia und erinnerte sich an sein Büro, an die Heiligenkalender und die Fotos von seiner Frau und seinen Kindern, zwei blonden Jungs, die in die Kamera lächelten. Die blonden Haare hatten sie offenbar von ihrer Mutter geerbt, denn Iriarte war eher ein dunkler Typ.
»Wir haben das toxikologische Gutachten von Anne Arbizu: Cannabis und Alkohol.«
Amaia las ihre Notizen vor: »Fünfzehn Jahre alt, Mitglied des katholischen Mädchenvereins Juventudes Marianas Vicencianas , ausgezeichnete Schulnoten. Basketballteam, Schachklub, Bibliotheksausweis. In ihrem Zimmer: rosafarbene Tagesdecke, Pu-der-Bär-Plüschtiere, Herzchen, Bücher von Danielle Steel. Irgendwas stimmt hier nicht.« Sie hob den Blick und sah Iriarte an.
»Finde ich auch. Deshalb haben wir heute Morgen mit Freundinnen von ihr gesprochen, und was die uns erzählt haben, ergibt ein ganz anderes Bild. Offenbar führte Anne Arbizu ein Doppelleben. Für ihre Eltern spielte sie das brave Mädchen, und mit ihren Freundinnen rauchte sie Joints, trank Alkohol, nahm manchmal auch Drogen. Sie verbrachte Stunden in sozialen Netzwerken und stellte anzügliche Fotos in ihr Profil. Nach Aussage ihrer Freundinnen hielt sie sogar ihre Brüste in die Webcam. Und, ich zitiere: ›Sie war ein ganz schönes Biest, obwohl sie sich wie eine Heilige gegeben hat, und sie hatte sogar was mit einem verheirateten Mann.‹«
»Was? Mit wem?«
»Das wissen sie nicht. Vielleicht wollen sie es aber auch nur nicht sagen. Allem Anschein nach ging die Geschichte über mehrere Monate. Kurz vor ihrem Tod wollte sie ihn verlassen. Sie soll gesagt haben, ich zitiere wieder: ›Der Typ fährt dermaßen auf mich ab, dass es nervt.‹«
»Endlich eine heiße Spur! Sie wollte mit ihm Schluss machen, und er bringt sie um. Vielleicht hatte er auch ein Verhältnis mit Carla und Ainhoa.«
»Mit Carla vielleicht, aber mit Ainhoa bestimmt nicht, die war erst zwölf und noch Jungfrau.«
»Vielleicht musste sie sterben, weil sie ihn abgewiesen hat. Zugegeben, das ist vielleicht ein bisschen an den Haaren herbeigezogen, aber wir müssen trotzdem rausfinden, wer der Mann ist. Wissen wir wenigstens, ob er von hier ist?«
»Die Mädchen meinen ja. Er könnte aber auch aus einem Nachbardorf sein.«
»Wir müssen diesen Kerl finden. Besorgt euch einen Durchsuchungsbeschluss und inspiziert den Computer, die Tagebücher und sonstige Aufzeichnungen von Anne Arbizu. Schaut euch
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