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Das Echo dunkler Tage

Das Echo dunkler Tage

Titel: Das Echo dunkler Tage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dolores Redondo
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schenkte.
    »Wurde sie hier ermordet, Doktor?«, fragte sie stattdessen.
    »Ich würde sagen, ja. Und wenn nicht, dann wurde sie zumindest sofort nach der Tat hergebracht. Der Leichenblässe nach zu urteilen, kann sie nur in den ersten zwei Stunden bewegt worden sein, danach nicht mehr. Ich fasse zusammen: Todesursache: Erwürgen, Ersticken. Todeszeitpunkt: vor einer Woche, aber da muss ich erst noch die Larven untersuchen. Ort: wahrscheinlich hier. Die Körpertemperatur hat sich der Temperatur in der Hütte angepasst, die Totenstarre ist fast gänzlich verschwunden, was exakt diesem Stadium entspricht. Der Zustand der Haut lässt sich durch die Feuchtigkeit erklären.«
    Amaia nahm eine Pinzette und entblößte die Genitalien des Mädchens. Sie trat einen Schritt zurück, damit Jonan Fotos machen konnte.
    »Was sagen Sie zu diesen Verletzungen? Ist sie vergewaltigt worden.«
    »Sieht so aus, ja, aber in diesem Stadium der Verwesung sind die Genitalien oft sehr geschwollen. Genaueres kann ich erst nach der Autopsie sagen.«
    »Oh nein!«, rief Amaia.
    »Was ist los?«
    Wie von der Tarantel gestochen sprang Amaia auf und ging ums Sofa herum.
    »Iriarte, helfen Sie mir!«
    »Wobei?«
    »Das Sofa zu verrücken.«
    Sie hoben es an. Es war leichter, als es aussah. Fünfzehn Zentimeter weiter stellten sie es wieder ab.
    »Mein Gott!«, rief San Martín.
    In diesem Moment trat Richterin Estébanez ein.
    »Was ist los?«
    Amaia hob den Blick, sah aber durch die Richterin hindurch, durch die Wand, durch den Wald, durch die jahrtausendealten Felsen des Tals, bis sie die Worte fand.
    »Ihr rechter Arm ist bis zum Ellbogen abgetrennt«, sagte sie schließlich. »Die Wunde hat nicht geblutet, also hat der Täter ihn ihr nach dem Mord abgeschnitten und mitgenommen.«
    Die Richterin verzog angewidert ihr Gesicht.
    FRÜHJAHR 1990
    Seit dem Vorfall in der Backstube wohnte Amaia bei Tante Engrasi. Sie besuchte ihren Vater jeden Tag bei der Arbeit und aß sonntags mit der Familie zu Mittag. Dann saß sie an dem einen Kopfende des Tisches und ihre Mutter an dem anderen und beantwortete einsilbig die Fragen, mit denen ihr Vater die Stimmung auflockern wollte. Anschließend half sie ihren Schwestern, den Tisch abzuräumen. Wenn alles erledigt war, ging sie ins Wohnzimmer, wo ihre Eltern die Drei-Uhr-Nachrichten sahen, und verabschiedete sich. Sie beugte sich zu ihrem Vater hinunter und gab ihm einen Kuss, und er drückte ihr einen zusammengefalteten Geldschein in die Hand. Dann stand sie da und sah zu ihrer Mutter, die sie keines Blickes würdigte.
    »Amaia, Tante Engrasi wartet bestimmt schon auf dich«, sagte ihr Vater meistens, und sie brach mit einem Lächeln auf dem Gesicht auf. Sie dankte dem lieben Gott dafür, dass sie auch diesmal ihrer Mutter keinen Abschiedskuss hatte geben müssen. Lange hatte sie panische Angst davor gehabt, ihre Mutter könnte ihr irgendwie zu verstehen geben, dass sie wieder nach Hause kommen sollte. Die bloße Vorstellung, sie könnte ihr länger als zwei Sekunden in die Augen sehen, machte sie ganz krank. Wenn es doch einmal geschah, weil ihr Vater eine Flasche Wein aus der Speisekammer holte oder vor dem Kamin niederkniete und das Feuer anfachte, zitterten ihr die Beine, und ihr Mund wurde trocken, als wäre er voller Mehl.
    Nur zweimal war sie mit ihrer Mutter allein gewesen, das erste Mal ein Jahr nach der Attacke. Ihre Haare waren nachgewachsen, und sie war in die Höhe geschossen. An dem Wochenende war die Uhr auf Sommerzeit umgestellt worden, aber ihre Tante hatte es vergessen, wodurch Amaia eine Stunde zu früh bei ihren Eltern vor der Tür stand. Sie klingelte, und als ihre Mutter ihr öffnete und beiseitetrat, um sie hereinzulassen, ahnte sie, dass ihr Vater nicht zu Hause war. Sie ging ins Wohnzimmer und drehte sich zu ihrer Mutter um, die im kleinen Flur stehen geblieben war und sie ansah. Ihr Gesicht konnte sie nicht erkennen, weil es auf dem Flur im Gegensatz zum lichtdurchfluteten Wohnzimmer dunkel war, aber sie spürte die Feindseligkeit, als lauerte dort ein Rudel Wölfe. Obwohl sie nach wie vor ihren Mantel trug, begann sie zu zittern, als wäre es kein lauer Frühlingstag, sondern sibirisch kalt. Sekunden vergingen, die ihr vorkamen wie eine Ewigkeit. Sie stand da und zitterte vor dem Bösen da draußen. Es machte einen Schritt auf sie zu. Das Kind in ihr begann erstickt zu schreien, wie wenn Panik sich ein Ventil sucht, es schrie, als würde es von einem Albtraum gequält, und doch kam

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