Das Echo dunkler Tage
Amaia nur ein Flüstern über die Lippen. Ein weiterer Schritt. Wieder schrie es in ihr, ein Schrei, der sich endlos in die Länge zog. Ihre Mutter stand jetzt in der Tür, und sie konnte ihr Gesicht erkennen. Da wurde ihr bewusst, dass das Mädchen, das da in ihr schrie, sie selbst war, und sie konnte ihre Blase nicht mehr kontrollieren. In diesem Moment kamen ihr Vater und ihre Schwestern zur Tür herein.
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A uf der Rückfahrt sagte sie kein Wort. Seit sie Johanas Leiche gesehen hatte, hatte sich das Gefühl der Beklemmung in ihr noch verstärkt. Sie grübelte über diesen neuen Mord nach, der so ganz anders war als die Morde bisher. Die Blumen, das Parfüm, der Strauß auf dem Bauch, das schamhafte Bedecken der Nacktheit: All dies passte nicht zu der Brutalität des Verbrechens. Der Täter hatte dem Mädchen ins Gesicht geschlagen, ihre Kleidung zerfetzt, hatte sie vermutlich vergewaltigt und mit bloßen Händen erwürgt. Und dann war da noch der abgeschnittene Arm. Viele Serienmörder nahmen vom Tatort eine Art Trophäe mit, damit sie ihre Tat immer wieder durchleben konnten, bis ihnen die Erinnerung nicht mehr genügte und sie sich ein neues Opfer suchten. Aber dass sie ein Körperteil mitnahmen kam selten vor. Es war schwer zu konservieren und nicht immer gleich zugänglich, wenn dem Mörder danach war. Und wenn er doch ein Körperteil mitnahm, dann Haare oder Zähne und nichts, was schnell verweste. Einen Unterarm mitzunehmen passte nicht zum Profil eines Sexualstraftäters.
Als sie am Rechtsmedizinischen Institut in Pamplona ankamen, war es bereits Nachmittag. Im Inneren des Wagens war es so warm und stickig, dass die Scheiben beschlugen. Sie stiegen aus und wollten gerade die Treppen zum Eingang hinaufgehen, als sich eine Frau, die unter einem Regenschirm versteckt gewartet hatte, aus einer kleinen Gruppe löste und sich ihnen in den Weg stellte.
Amaia wusste sofort, wer sie war. Es war nicht das erste Mal, dass ein Familienangehöriger eines Opfers vor der Rechtsmedizin auf sie wartete und darum bat, an der Autopsie teilnehmen zu dürfen, was sie aber nie erlaubte. Die allgemeine Annahme, dass ein enger Verwandter die Autopsie autorisieren müsse, war schlichtweg falsch. Eine Autopsie wurde richterlich angeordnet, und wenn eine Identifikation nötig war, erfolgte sie am Bildschirm und nicht im Operationssaal selbst. Trotzdem tauchten immer wieder Verwandte vor der Rechtsmedizin auf, als hofften sie darauf, dass jeden Moment eine Krankenschwester herauskommen würde, um zu verkünden, dass alles gut gegangen war und der Patient in ein paar Tagen wieder wohlauf sein würde.
Amaia nahm sich vor, der Frau nicht in die Augen zu sehen. Trotzdem nahm sie wahr, wie blass sie war, wie verzweifelt sie die Hand nach ihr ausstreckte. An der anderen Hand hielt sie ein kleines, drei oder vier Jahre altes Mädchen, das sie nun hinter sich herzerrte. Amaia ging schneller.
»Señora, bitte!«, rief die Frau und streifte mit ihren rauen, kalten Fingern Amaias Hand. Plötzlich wich sie zurück, als befürchtete sie, zu weit gegangen zu sein. Amaia blieb abrupt stehen und sah zu Jonan, der versuchte, sich zwischen sie und die Frau zu drängen.
»Señora, bitte!«, rief die Frau erneut.
Amaia gab nach und sah sie an.
»Ich bin Johanas Mutter«, sagte die Frau, als wäre es ein trauriger Ehrentitel, der keiner weiteren Erklärung bedurfte.
»Ich weiß, wer Sie sind. Was mit Ihrer Tochter passiert ist, tut mir sehr leid.«
»Sie sind die Polizistin, die in den Basajaunmorden ermittelt, nicht wahr?«
»Ja.«
»Meine Tochter wurde nicht vom Basajaun ermordet, oder?«
»Dazu kann ich Ihnen leider nichts sagen, dafür ist es noch viel zu früh. Wir haben gerade erst die Ermittlungen aufgenommen und sind noch dabei herauszufinden, was genau passiert ist.«
»Aber es muss Ihnen doch klar sein, dass es nicht der Basajaun war.«
»Wieso sagen Sie das?«
Die Frau biss sich auf die Lippe und blickte sich um, als läge im Regen die Antwort.
»Wurde sie … missbraucht?«
Amaia sah das kleine Mädchen an, das gedankenverloren die Streifenwagen betrachtete.
»Wie gesagt, dafür ist es noch zu früh, wir müssen erst …«
Plötzlich fand sie es zu brutal, das Wort Autopsie in den Mund zu nehmen. Die Frau trat noch ein Stückchen näher, sodass Amaia ihren bitteren Atem und den Duft des Lavendelwassers riechen konnte, der ihrer feuchten Kleidung entströmte. Als hätte sie trotz ihrer Verzweiflung ein Einsehen, ergriff
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