Das Echo dunkler Tage
sie Amaias Hand und sagte: »Sagen Sie mir wenigstens, wie lange sie schon tot ist.«
Amaia legte ihrerseits die freie Hand auf die der Frau.
»Ich werde mit Ihnen sprechen, sobald die Untersuchungen abgeschlossen sind, das verspreche ich Ihnen.«
Sie löste sich aus der Hand, die sich angefühlt hatte wie eine eisige Klaue, und ging zum Eingang.
»Sie ist schon seit einer Woche tot, stimmt’s?«, fragte die Frau mit brüchiger Stimme. »Seit dem Tag, an dem sie verschwunden ist.«
Amaia drehte sich noch einmal um.
»Es ist doch so, oder?«, insistierte die Frau. Dann brach ihr endgültig die Stimme, und sie begann heiser zu weinen.
Amaia sah ihre Kollegen an, um zu sehen, wie sie auf diese Bemerkung reagierten. Dann wandte sie sich wieder der Frau zu.
»Woher wollen Sie das wissen?«
»Weil an dem Tag, als meine Kleine starb, hier drin was zerbrochen ist«, erklärte Johanas Mutter und legte sich eine Hand auf die Brust.
Amaia bemerkte, dass die Tochter sich an die Beine ihrer Mutter klammerte und still weinte.
»Señora, gehen Sie nach Hause, schon wegen Ihrem Kind. Sobald ich mehr weiß, melde ich mich bei Ihnen.«
Die Frau warf einen liebevollen Blick auf ihre Tochter, als wäre ihr gerade erst bewusst geworden, welches Glück es war, dass es sie gab.
»Nein«, sagte sie entschlossen. »Ich werde hier warten, bis Sie fertig sind. Ich werde so lange warten, bis ich mein Mädchen mitnehmen kann.«
Amaia drückte die schwere Tür auf, hörte aber noch, wie die Frau sie bat: »Halten Sie da drin für meine Tochter die Totenwache!«
Jonan hatte sein Versprechen gegenüber Dr. San Martín gehalten und trat mit ihr in den Saal. Es war nicht das erste Mal, dass er an einer Autopsie teilnahm, aber normalerweise ersparte er sich diese Prozedur, die für jeden schwer zu verkraften war. Schweigend lehnte er an einem Metalltisch. Sein Gesicht verriet keinerlei Emotion, um den anderen keine Angriffsfläche zu bieten, die manchmal Witze über ihn machten von wegen, wie denn ein Doktor – er war Doktor der Anthropologie und Archäologie – sich wegen einer Autopsie so anstellen könne. Amaia entging nicht, dass er die Hände hinter dem Rücken versteckte, als wollte er damit zeigen, dass ihn nichts berühren würde, weder physisch noch emotional. Bevor sie den Saal betreten hatten, hatte Amaia ihm versichert, dass er sich nicht an das Versprechen halten müsse, dass sie ihm einen Vorwand liefern könne, zum Beispiel, dass er Johanas Mutter befragen müsse. Aber er hatte es vorgezogen zu bleiben.
»Ich muss dabei sein, Chefin, dieser Fall macht mich noch ganz verrückt. Ich kriege einfach kein Täterprofil zustande.«
»Es kann ziemlich unappetitlich werden.«
»Ist es doch immer.«
Normalerweise zogen San Martíns Assistenten dem Opfer die Kleidung aus, nahmen Proben von Fingernägeln und Haaren und wuschen die Leiche. Doch diesmal hatte Amaia den Rechtsmediziner gebeten, damit zu warten. Sie hatte das Gefühl, dass die Art, wie die Kleidung aufgeschlitzt worden war, etwas Neues zu bedeuten hatte. Sie streifte sich einen Einweg-OP-Mantel über und trat an den Tisch.
»Gut, meine Damen und Herren«, sagte San Martín. »Dann wollen wir mal.«
Die Assistenten nahmen Proben der Staubpartikel, Fasern und Samen, die an den Textilien hafteten. Dann zogen sie die Plastiktüte von der Hand. Zwei Fingernägel waren gebrochen und hingen herunter, darunter waren Haut- und Blutreste zu erkennen.
»Was sagt uns diese Leiche? Welche Geschichte erzählt sie uns?«, fragte Amaia.
»Einiges ist genauso, vieles aber anders als bei den vorigen Fällen«, sagte Iriarte.
»Zum Beispiel?«
»Ähnlich ist das Alter des Mädchens, die Art, wie die Kleidung aufgeschlitzt war, die Schnur um den Hals. Und teilweise die Inszenierung der Leiche«, erklärte Jonan.
»Was genau meinst du?«
»Die Blumen. Sie geben der Leiche etwas Jungfräuliches. Vielleicht hat der Täter einfach noch stärker seine Fantasien ausgelebt, vielleicht wollte er dieses Opfer als etwas Besonderes markieren.«
»Apropos, wissen wir, um welche Blumen es sich handelt? Wir haben Februar, da wächst noch nicht so viel.«
»Ja, die kleinen gelben sind Ringelblumen, sie wachsen am Wegrand. Und die weißen sind Kamelien. Sie wachsen nicht wild, sondern nur in Gärten. Beide Blumen sind Frühblüher. Im Internet habe ich recherchiert, dass sie in einigen Kulturen Symbole der Reinheit sind«, erläuterte Jonan, der sich offenbar gut vorbereitet hatte.
Amaia
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