Das Echo Labyrinth 01 - Der Fremdling
beschmutzt hatte.
Plötzlich war meine Angst wie weggeblasen. Die Dunkelheit im Schlafzimmer wirkte wieder angenehm und beruhigend, obwohl dort eine Leiche lag. Der Tod ist wenigstens ein gesetzmäßiges Ereignis - anders als Magie des 212. Grades, anders als Schwarze oder Weiße oder von mir aus auch graubraunhimbeerrote Magie.
Ich merkte, dass die Konturen dessen, was ich gesehen hatte, verschwunden waren. Sir Juffin stieß mir den Ellbogen in die Seite. Die Vorstellung ging weiter.
Wieder war es im Schlafzimmer dunkel. Ich sah einen sympathischen jungen Mann in festlicher, grellorangefarbener Skaba. Das war natürlich der arme Nattis, der ungelernte Höfling, der keine Lust gehabt hatte, in der berühmten Stadt Gazin zu bleiben. Er lächelte traurig und zeigte dabei bezaubernde Grübchen. Dann konzentrierte er sich, und sein Gesicht bekam einen merkwürdig grausamen Ausdruck. In diesem Moment erschien Herr Gowins, an dessen traurigem Schicksal ich keinen Zweifel mehr hegte. Benimmlehrer Gowins legte seinem Schüler das Rasierzeug hin. Der reich verzierte Griff des Rasiermessers konnte bei jedem Sammler ein nervöses Zucken hervorrufen.
Ich ließ mich ablenken und schaute mich nach dem wunderbaren Kachar-Balsam um. Sir Juffin sah mich etwas argwöhnisch an.
»Nur ein Tröpfchen«, flüsterte ich schuldbewusst.
»Schau mich nicht so an, Junge! Ich bin nur ein wenig neidisch. Gib mir auch ein Schlückchen.«
Als ich die Vision wieder vor Augen hatte, hatte Nattis schon mit dem Rasieren begonnen, fuhr sich mit dem Messer über die Wangen und lächelte sanft in sich hinein. Das Messer kam einer pulsierenden Ader seines knabenhaften Halses immer näher. Bis dahin war alles völlig normal gelaufen. Eine ganz gewöhnliche Rasur.
Aber der Spiegel schlief nicht. Ein paar Pünktchen auf seiner Oberfläche zitterten im richtigen Moment, und die eisige Angst tastete wieder nach meinem Herzen, dem all das gefiel, wie einem alten Schürzenjäger ein appetitliches Mädchen gefällt.
Sir Juffin nahm mich beim Kinn. »Schau bitte weg. Das ist schon wieder ein abstoßendes Bild. Ich jedenfalls will mir diesen Mist nicht ansehen. Weißt du, man hat mir bereits von solchen Sachen erzählt und mir am Ende immer zu verstehen gegeben, es sei besser, sich mit diesen Wesen zu versöhnen, statt gegen sie anzukämpfen. Mein Nachbar hat übrigens hübsche Möbel - das muss ich ihm lassen!
Er ist anscheinend ein wirklich anständiger Mensch. Nattis allerdings hat sich vom Flüstern des Spiegelwesens beeinflussen lassen. Ach, Max, schau dir seine Augen an! So was hab ich noch nie gesehen! Werde nur nicht übermütig!«
Das Erste, was ich sah, war das hilflose Lächeln des Jungen, das dem absurden Lächeln unseres glücklichen Melifaro sehr ähnlich war. Rührende Grübchen zierten die schon glatte rechte und die noch unrasierte linke Wange. Und Blut, viel Blut. Es überflutete den Spiegel und ließ das darin wohnende Wesen vor Begeisterung zittern und so gierig atmen wie einen unerfahrenen Taucher, der mit knapper Not die Wasseroberfläche erreicht hat. Zweifellos hauchte das Blut dem Spiegel wieder Leben ein - nein, nicht dem Spiegel, sondern einem Gegenstand, der nur wie ein Spiegel aussah, tatsächlich aber ein lange unbenutzter Zugang zu einem widerlichen Ort war. Mir stockte der Atem. Nattis lag schon am Boden. Wie verzaubert starrte Gowins ihn an. So entging ihm, dass der blutverschmierte Spiegel vor Zufriedenheit bebte, sich dann ein wenig verdunkelte und schließlich reglos wurde. Natürlich nur für kurze Zeit. Leute kamen ins Zimmer, und das Bild taute auf.
»Juffin«, sagte ich leise. »Sie wissen also, was das ist?«
»Wissen tue ich es schon, wenn man das so sagen kann. Weißt du, Max, das ist eine Legende, und ich muss gestehen, dass ich bisher nicht daran geglaubt habe. Doch es spielt keine Rolle, ob ich daran glaube oder nicht. Wir schaffen das schon. Egal was passiert. Schau! Jetzt kommt das Interessanteste!«
»Das alles ist mir zu langweilig, Juffin. Und widerlich ist es auch.«
»Natürlich ist es widerlich. Was hast du denn gedacht? Macht nichts - nach einem solchen Anfang wird die Arbeit für dich das reinste Vergnügen sein. So etwas geschieht nicht jeden Tag. Eigentlich passiert es nie.«
»Das will ich hoffen. Offen gesagt ziehe ich das Vergnügen der Arbeit vor - so einer Arbeit jedenfalls.«
Schon zeigte uns die kleine Cremedose das nächste Ereignis. Wir sahen Krops Kulli, einen weiteren netten
Weitere Kostenlose Bücher