Das Echo Labyrinth 01 - Der Fremdling
unumkehrbare Dinge zu tun, um die Ordnung der Welt nicht zu stören.
Doch wie auch immer - ich hatte bisher zu wenig Zeit gehabt, mich mit den vertrackten Problemen der hiesigen Apokalypse zu beschäftigen. Jedenfalls war der Große Magister Machligl Annoch gestorben. Sein Tod war übrigens kein Selbstmord im üblichen Sinne gewesen, sondern wohl eher Teil der für seine Forschungen notwendigen Untersuchungen.
Die Tatsache, dass die Mauern von Cholomi ein unüberwindbares Hindernis für alle Arten von Magie waren, stimmte mich nicht besonders optimistisch, sondern ließ mich im Gegenteil vermuten, das Weiterleben von Sir Annoch sei auf Zelle Nummer Fünf beschränkt. Dieses Weiterleben aber war für die Häftlinge, die im Laufe der letzten drei Jahre die Zelle mit ihm geteilt hatten, eindeutig ungünstig gewesen. Der Aufenthalt in Annochs alter Zelle kam anscheinend fast einem Todesurteil gleich. Das erschien mir ungerecht, da die Insassen von Zelle Nummer Fünf ihrem »Mitbewohner« schutzloser ausgeliefert waren, als es die in Freiheit lebenden Bürger des Vereinigten Königreichs je sein könnten. Gefangene nämlich können nicht entscheiden, wo sie leben wollen - auch wenn sie spüren, dass ein Ortswechsel (und sei es nur der Umzug in eine andere Zelle) sicher besser für sie wäre. Ich hätte mich nicht in ihrer Lage befinden wollen. Allerdings befand ich mich bereits in ihrer Lage ...
Die Nacht vertrieb ich mir mit der Lektüre des letzten Bandes von Manga Melifaros Enzyklopädie der Welt, den ich glücklicherweise aus der Gefängnisbibliothek hatte ausleihen können. Nichts Übernatürliches geschah - bis auf den Umstand, dass mich der bohrende Blick einmal mehr bis zum Juckreiz quälte. Und zwar noch aufdringlicher als in der Nacht zuvor. Ein paar Mal hörte ich ein Husten, das allerdings mehr einer Halluzination als einem echten Geräusch ähnelte.
Kurz vor dem Morgengrauen beschlich mich eine neue Wahrnehmung: Ich hatte das Gefühl, mein Körper sei hart wie eine Nussschale - so hart, dass ich das Jucken nicht mehr als Berührung empfand, sondern als Zittern der Luft um mich herum. Das war nicht gerade angenehm, doch ich spürte, dass das unsichtbare Wesen, das mich die ganze Nacht beobachtet hatte, noch recht klein war. Seine Unzufriedenheit übertrug sich auf mich. Es hätte nicht viel gefehlt, und ich hätte mir Vorwürfe gemacht, dass diese Augen keinen noch stärkeren Juckreiz bei mir ausgelöst hatten. Als ob die Tatsache, dass das Jucken mich nicht wild die Wände hochgehen ließ, die Gefühle eines anderen Wesens verletzt hätte.
Die Nacht brachte nichts Neues - vielleicht weil das Wesen misstrauisch war? Oder weil Juffin mir unbemerkt einen magischen Schutzschild verliehen hatte?
Das würde gut zu ihm passen! Aber vielleicht rettete mich auch die Tatsache, dass ich aus einer anderen Welt stamme und gewissermaßen ein Außerirdischer bin.
Plötzlich wurde ich so müde, dass ich beschloss, mich schlafen zu legen. Damit wartete ich allerdings bis zur Dämmerung. Wie wohl Lonely-Lokley seine Zeit verbringen mochte? Dem war garantiert langweilig. Und Hunger hatte er bestimmt auch. Er steckte sicher in der Klemme.
Mir hingegen war ganz und gar nicht langweilig. Und richtig ausschlafen konnte ich mich erst recht nicht. Es war Mittag, als mich der vertraute Juckreiz weckte. Ob das Wesen - worum auch immer es sich dabei handelte - auch tagsüber wirken mochte? Warum eigentlich nicht! Die schrecklichsten Dinge, die während meines Aufenthalts in Echo passiert waren, hatten sich alle bei Tageslicht zugetragen. Vielleicht ist die Überzeugung, Alpträume würden uns nur bei Nacht zustoßen, ein dummer Aberglaube, der noch aus der Zeit stammt, da unsere Vorfahren im Dunkeln nicht arbeiten konnten.
Nachdem ich mich gewaschen und eine Tasse Kamra getrunken hatte, begann ich erneut zu grübeln. Meine Vorgänger waren allesamt nachts gestorben. Ob das Zufall gewesen war? Oder gab es einen einfachen Grund dafür: den nämlich, dass sie zu dieser Zeit - wie jeder normale Mensch - geschlafen hatten? Oder hatte mein persönlicher Makel - die Tatsache also, nicht aus dieser Welt zu stammen - die Ordnung der Dinge gravierend verändert? Ich hatte keinen blassen Schimmer.
Vor allem meine unerschütterliche Ruhe frappierte mich. Ich hatte vor nichts Angst - weder vor dem, was passiert war, noch vor dem, was theoretisch noch alles geschehen konnte. Ich war einfach naiv überzeugt, dass mir nichts Schlimmes
Weitere Kostenlose Bücher