Das egoistische Gehirn: Warum unser Kopf Diäten sabotiert und gegen den eigenen Körper kämpft (German Edition)
Orangensaft. Die Probanden griffen zu, während ihnen immer wieder Blut abgenommen wurde. Im Vergleich zu den Daten, die die Forscher bereits im Vorfeld ohne Stresseinfluss erhoben hatten, ließ sich nun feststellen, wie viel Glukose während der zehn Minuten Examensstress verbraucht worden war: Die gestressten Probanden nahmen am Buffet im Schnitt 34 Gramm Extra-Kohlenhydrate zu sich. Das entspricht einem Sechstel des gesamten Tagesbedarfs von etwa 200 Gramm. Eine einfache Nahrungsumrechnung belegte: Zehn Minuten psychosozialer Stress verbrauchen mehr Energie, als in eineinhalb Brötchen (50-g-Größe) steckt.
Für die gestressten Testkandidaten war das üppige Buffet so etwas wie ein Happyend. Sie konnten ihre Energiespeicher gezielt wieder auffüllen, die Stressanzeichen wie Zittern und Schwitzen gingen schnell weg, und auch die nachfolgenden Symptome wie Müdigkeit und Erschöpfung verschwanden. Doch wie bei manchen DVD -Versionen eines modernen Hollywood-Films gab es auch hier ein alternatives Ende: Einer zweiten Testgruppe wurde nur ein mageres Buffet mit grünem Salat und kalorienarmem Dressing angeboten. Auch diese Gruppe aß nach dem Examensstress mit Hunger, aber die Erholung stellte sich nicht ein. Noch anderthalb Stunden nach dem Essen waren bei dieser Gruppe die Zeichen der Neuroglukopenie im Gehirn so ausgeprägt wie unmittelbar nach dem Stress. Der Notstand dauerte an und zeigte sich in Form von Erschöpfung und Müdigkeit. Diese Gruppe verkörperte sozusagen die Gegenprobe, die bestätigt: Extra-Glukose kann das durch Stress verursachte Energieproblem im Gehirn lindern oder sogar aufheben.
Überträgt man die Ergebnisse der Lübecker Forschungen auf unseren Alltag, wird verständlich, wodurch unter Stress Heißhungerattacken entstehen, warum selbst kurzzeitige Leistungssteigerungen des Gehirns uns todmüde machen können und wie das eigene Gehirn bei mangelhafter Glukosezufuhr zur unerträglichen Nervensäge wird.
Nur: Wie kommt das Gehirn überhaupt dazu, so und nicht anders zu reagieren, wenn es unter Stress gerät? Seit wann gibt es das Programm, nach dem unser Nervensystem sich an belastenden Situationen abarbeitet? Interessanterweise ist es schon ziemlich alt – sogar sehr viel älter als 100 000 Jahre. Denn unser Stresssystem arbeitet noch immer so, als lebten wir in einer Epoche der Sammler und Jäger.
Geistesblitz der Evolution
Das Zagrosgebirge im heutigen Kurdistan vor rund 60 000 Jahren: Ein schwer Verwundeter schleppt sich mit letzter Kraft durch ein abgelegenes Tal. Sein Ziel ist ein Höhlenversteck, eine dunkle Felsgrotte, in der er vor seinen Verfolgern in Sicherheit ist. Dort sinkt er erschöpft zu Boden. Später wird er vermutlich in einen Dämmerzustand hinübergeglitten sein, vor Erschöpfung und um Kräfte zu sammeln. Sicher ist, dass er einige Tage oder sogar Wochen in seinem Versteck überlebt hat. Vielleicht hatte er etwas Wasser und einige Vorräte bei sich. Aber es fehlte ihm offenbar die Kraft, aufzustehen und neue Nahrung zu suchen. Die Verletzung war zu schwerwiegend, der Tod kam langsam und qualvoll.
Der Tote des Zagrosgebirges wurde zum Glücksfall für die Wissenschaft. Um 1960 wurde die Leiche des Mannes von Anthropologen in der Höhle entdeckt. Schnell war klar, dass es sich bei dem Toten nicht um einen modernen Menschen, sondern um einen Neandertaler handelte. Die Wissenschaftler benannten ihren Fund nach der Höhle, die ihm zum Grab geworden war: Shanidar 3. Seine Verletzungen – eine tiefe Brustwunde – gaben den Forschern lange Zeit Rätsel auf. Wer oder was hatte sie ihm zugefügt? Erst 2009 kam der Forensiker Steven Churchill von der Duke University im US -Bundesstaat North Carolina dem Geheimnis auf die Spur. Er untersuchte den Torso, vermaß die Brustwunde und bestimmte den Eintrittswinkel des spitzen Gegenstandes, der in den Brustkorb eingedrungen war. Churchill fand heraus, dass ein Speer die Tatwaffe gewesen sein musste. »Das Geschoss wurde geworfen und traf den Oberkörper des Opfers nach einer typischen Flugbahn in einem Winkel von 45 Grad«, so Churchill in seinem Autopsiebericht. Damit wurde der Kreis der Verdächtigen eingegrenzt: Neandertaler kamen als Täter nicht in Frage. Sie verfügten zwar über Speere, nutzten sie aber ausschließlich als Stichwaffen. Nur ein Lebewesen war vor 60 000 Jahren fähig, Wurfspeere zu verwenden: der moderne Homo sapiens. Liefert Shanidar 3 also den lange fehlenden Beweis, dass wir es waren, die die
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