Das egoistische Gehirn: Warum unser Kopf Diäten sabotiert und gegen den eigenen Körper kämpft (German Edition)
von dieser durchorganisierten Gemeinschaftsleistung Tausender Gehirne – vom Baumeister bis zum einfachen Arbeiter – Zeugnis ab. Dabei unterschied sich das Gehirn eines Steinmetzen im Ägypten der frühen Antike physiologisch nicht von dem eines Jägers und Sammlers.
Unser Gehirn, diese faszinierende Lernmaschine, ist in der Lage, neue Aufgaben und Situationen schnell zu begreifen. Es kann kreativ denken, planen, konstruieren, ist aber auch fähig, sich ein- oder unterzuordnen und zum ausführenden Organ eines Arbeitsablaufs zu werden. In diesem Sinne nötigte die Industrialisierung dem menschlichen Gehirn weitere Anpassungsschritte ab. 1913 revolutionierte der US -Autohersteller Henry Ford die Arbeitswelt: Er führte das Fließband ein. Die Fertigung eines Fahrzeugs übernahmen jetzt bis zu hundert Gehirne. Jedes gehörte zu einem Arbeiter, der den immer wiederkehrenden gleichen Arbeitsschritt in einer Fertigungskette vollzog. Keines der beteiligten Gehirne konnte den kompletten Vorgang der Fertigung eines Automobils mehr überblicken oder gar durchführen. Jeder Arbeiter hatte gelernt, Glied einer Lieferkette zu werden, wie Wirtschaftswissenschaftler dieses Prinzip der Arbeitsaufteilung nennen.
Aber die Fähigkeit, sich in so einem Arbeitsprozess optimal zu synchronisieren, stößt immer wieder an Grenzen. Um im Bild zu bleiben: Eine Arbeitsgruppe am Fließband ist nur so produktiv wie der langsamste Arbeiter. Bei ihm stauen sich die angelieferten Werkstücke seiner produktiveren Kollegen. Das kann für Hektik und Stress sorgen. Der Mitarbeiter, der vielleicht gerade neu ist und die Arbeitsabläufe noch nicht so gut kennt, fühlt sich überfordert. Darunter leidet seine Arbeitsqualität zusätzlich. Möglicherweise wird er sogar krank und fällt aus. Und schon funktioniert die Lieferkette suboptimal.
1947 dachte der japanische Manager Taiichi Ohno über dieses Problem nach. Er sollte beim Autohersteller Toyota die Produktivität der Fließbandarbeit optimieren. Ohno fand eine genial einfache Lösung: Kanban. Das japanische Wort bedeutet Karte oder Tafel. Ohnos Idee beruhte darauf, die Lieferkette am Fließband mit einem einfachen, aber wirksamen Rückmeldungssystem zu versehen – dem Kanban-Prinzip, das sich bereits bei der Lagerhaltung bewährt hatte: Bevor eine Ware aus dem Bestand verschwindet, fordert eine Karte Nachschub an. Ohno ordnete an, dass jeder Arbeiter, der sein Werkstück weitergibt, eine Karte in die andere Richtung reicht, die besagt: »Ich bin jetzt bereit für ein neues Werkstück.« Erst dann wird Nachschub geliefert. So werden Staus in der Lieferkette ebenso vermieden wie Leerlauf. Tatsächlich führte das Kanban-System innerhalb kurzer Zeit zu verbesserten Arbeitsabläufen, weniger Stress und mehr Produktivität.
Das Prinzip der Lieferkette
Szenenwechsel: Es ist die erste Woche der Sommerferien, und trotzdem arbeiten sechs Schülerinnen und Schüler der Lübecker Geschwister-Prenzki-Gesamtschule und der Oberschule zum Dom konzentriert im Physikraum. Im Rahmen der Summerschool 2010 haben wir uns zu einer freiwilligen Projektwoche zusammengefunden. Gemeinsam soll untersucht werden, wie man aus einer abstrakten mathematischen Vorlage der »Lieferkette des egoistischen Gehirns« ein anschauliches Modell machen kann, das auch andere Jugendliche gut verstehen können. Mit viel Kreativität und tollen Ideen gehen die Jungen und Mädchen ans Werk. Am Ende soll ein Entwurf für ein funktionstüchtiges Modell stehen, das den Energiestoffwechsel des Gehirns mit möglichen Störeinflüssen veranschaulicht.
Der Gedanke, die Lieferkette auf den Menschen zu übertragen, war mir 2005 gekommen, als mir eine Studentin der Wirtschaftswissenschaften im Rahmen einer Sommerakademie in Salem vom Kanban-Prinzip berichtete. Möglicherweise lag hier die Erklärung dafür, wie unser Gehirn das logistische Problem der bestmöglichen Energieversorgung gelöst hat. Unterstützung holte ich mir bei dem Mathematiker Dirk Langemann von der Universität Lübeck, der unter anderem auch Wirtschaftsmathematik lehrt und sich sehr genau mit Lieferketten auskennt.
Es stellte sich heraus, dass sich die drei Gesetze der Lieferkette auch auf den Energiestoffwechsel anwenden lassen:
Der Energieerhaltungssatz: Was hineingeht, entspricht dem, was herauskommt. Mit anderen Worten: Es geht nichts verloren.
Eine Lieferkette funktioniert nach dem Push-und-Pull-Prinzip. Angebot und Nachfrage erzeugen entweder einen Druck oder einen
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