Das egoistische Gehirn: Warum unser Kopf Diäten sabotiert und gegen den eigenen Körper kämpft (German Edition)
Neandertaler vor gut 30 000 Jahren ausrotteten? Wenn das zuträfe, wäre die alles entscheidende Frage, welche Eigenschaft uns dazu befähigt hat, unsere lästigen Nahrungskonkurrenten zu überdauern, beantwortet. Interessanterweise geht die anthropologische Forschung heute davon aus, dass Lebensumstände, Hirngröße und Intelligenz der beiden Unterarten Mensch in etwa vergleichbar waren. Beide waren Jäger. Sie fertigten und benutzten einfache Werkzeuge und Waffen, kannten das Feuer, kleideten sich mit Fellen, bestatteten ihre toten Angehörigen und hinterließen eigentümliche Kunstwerke in den Höhlen, die sie bewohnten. Es gibt auch Hinweise, dass sich Neandertaler und Mensch nicht nur feindselig begegnet sind. Sie haben Tauschhandel betrieben, zuweilen gemeinsam eine Unterkunft genutzt und vielleicht sogar gemeinsame Nachkommen gezeugt. Dennoch wurde die eine Gruppe zum Erfolgsmodell der Evolution, während die andere im Dunkel der Erdgeschichte verschwand.
Über die Gründe für das Aussterben der Neandertaler gibt es in der Paläontologie verschiedene wissenschaftliche Erklärungsmodelle – doch bewiesen ist bislang nichts. Auch die Selfish-Brain-Forschung kann diesen Beweis nicht liefern, aber sie führt zu der neuen Vermutung, dass es ein hirnphysiologischer Vorteil war, der unsere Vorfahren entscheidend begünstigt haben könnte: Der Schlüssel zum Verständnis für die Erfolgsgeschichte des modernen Menschen steckt möglicherweise in der Energiezuteilung zwischen seinem Gehirn und seinem Körper. Um Energie zu gewinnen, hat die Natur zwei grundsätzlich verschiedene Konzepte entwickelt: die Standorttreue – das Lebewesen verharrt zeitlebens am selben Ort und kämpft gegen die Konkurrenz um Ressourcen wie Licht, Wasser und Nährstoffe. Pflanzen folgen diesem Energiekonzept. Der Vorteil besteht in der Einsparung – wer sich nicht bewegt, verbraucht deutlich weniger Energie. Die meisten Tiere hingegen sind Energiefolger. Sie müssen nach Nahrung suchen oder sogar jagen. Ihr Dilemma besteht darin, dass sie Energie investieren müssen, bevor sie ihre Kraftreserven durch Nahrungsaufnahme auftanken können. In Krisenzeiten, wie zum Beispiel während eines harten Winters oder einer Dürreperiode, nehmen die Risiken dieses Verfahrens zu. In welche Richtung soll sich das Tier oder eine Gruppe von Tieren auf der Suche nach Beute wenden? Wie teilt man seine Kräfte sinnvoll ein? Welche Situationsanalyse birgt die größten Chancen und die geringsten Risiken? Die Jägerkulturen vor 60 000 Jahren standen immer wieder vor diesen überlebensentscheidenden Fragen und wurden so zu Konkurrenten. Neandertaler und der moderne Homo sapiens verfügten über unterschiedliche physische Voraussetzungen. In einem Faustkampf wäre der Neandertaler einem modernen Menschen wahrscheinlich überlegen gewesen – aufgrund seiner größeren Körperkräfte. »Neandertaler waren sehr stark«, so der britische Anthropologe Leslie Aiello, »sie hatten kräftige Muskelpakete, und ihre Knochen waren sehr dickwandig.« Man schätzt, dass sie 20 bis 50 Prozent mehr Körperkraft besaßen als der moderne Mensch, was sich bereits am Knochenbau erkennen lässt: Das Skelett des Homo sapiens wirkt neben dem Knochengerüst eines Neandertalers wie ein graziler Leichtbau, gewissermaßen eine abgespeckte Version.
Die Entstehung solcher »abgespeckten Versionen« ist ein evolutionäres Erfolgskonzept in Krisenzeiten. Body-Downsizing, so nennt sich dieses Phänomen, lässt sich bereits bei evolutionär niederen Wirbeltieren wie etwa Fischen nachweisen. Bei anhaltenden Witterungsumschwüngen, Nahrungsknappheit oder einer langwierigen Erkrankung bildet sich Gewebe zurück. Jeder von uns hat so etwas selbst schon einmal ansatzweise erlebt,
zum Beispiel nach einer schweren Grippe: Muskeln erschlaffen, Fettgewebe wird abgebaut. Unser Körper begreift eine Krankheit als Krise und wechselt in einen Energiesparmodus. Die Leistungsfähigkeit des Bewegungsapparates und der meisten Organe wird abgesenkt. Gewebeverlust ist eine Folge. Im Extremfall kommt es sogar zur Inanition, der bereits erwähnten regelrechten Ausmergelung des Körpers.
Dieses Schrumpfen hat zwei Effekte: Zum einen wird Energie gespart, zum anderen verändert sich die Body-Brain-Balance, das Gleichgewicht zwischen Gehirn und Körper. Das bedeutet, dass das Gehirn im Verhältnis zum Körper größer wird, ohne selbst zu wachsen. Schon bei Marie Kriegers Studien an verhungerten Weltkriegssoldaten
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