Das egoistische Gehirn: Warum unser Kopf Diäten sabotiert und gegen den eigenen Körper kämpft (German Edition)
Probanden die zermürbende Situation überstanden. Sie wurden in einen Nebenraum geführt, in dem ihr Stresslevel gemessen wurde. Schon vor dem Test hatte man den Kandidaten eine Kanüle in die Armvene eingeführt und Blut entnommen. Diese Anfangsproben wurden nun mit den neuen Blutproben verglichen. Obwohl die Testpersonen wussten, dass sie nur an einem wissenschaftlichen Versuch teilnahmen und die Prüfung für sie persönlich keine Relevanz hatte, sprachen ihre Blutwerte eine ganz andere Sprache: Die Stresshormone Adrenalin und Kortisol waren nach den zehn Prüfungsminuten auf sehr hohem Niveau. In dieses Bild fügten sich weitere Stresssymptome wie Herzrasen, Unruhe, Zittern, Schwitzen. Das sind die typischen Merkmale für die Aktivierung des sympathischen Nervensystems, mit dessen Hilfe das Gehirn mit den inneren Organen kommuniziert. Das war zu erwarten gewesen. Überraschenderweise traten auch sogenannte neuroglukopenische Symptome auf, besonders deutlich in den ersten Minuten nach dem »Examensstress«. Neuroglukopenie bezeichnet einen Glukosemangel der Nervenzellen (»Neuro« für Nerven, »-gluko-« für Glukose, »-penie« für Mangel). Die Symptome sind Sprachschwierigkeiten, Konzentrationsstörungen bis hin zu Blackouts, verlangsamtes Denken, verschwommenes Sehen, Schwindel, Schwäche. Diese Symptome kennt man in der Stoffwechselforschung eigentlich nur von Diabetespatienten mit Unterzucker, der eine mangelhafte Glukoseversorgung im Gehirn anzeigt. Erstmals beobachteten Forscher nun aber solche neuroglukopenischen Symptome bei normalen Blutzuckerwerten. Ein Ergebnis, das nur einen Schluss zulässt: Psychosozialer Stress kann ein messbares Energieproblem im Hirn, einen zerebralen Erschöpfungszustand herbeiführen.
Die Angst, die rasenden Gedanken und die langsam wieder abebbende Aufregung kennen wir alle aus ähnlichen Situationen – und auch das Gefühl, dass das ganz schön viel Energie gekostet haben muss. Aber die wenigsten Menschen wissen, welche Vorgänge dabei in ihrem Körper ablaufen. Eine Rückblende auf die Prüfungssituation: Der Testkandidat schwitzt, überlegt fieberhaft. Dabei steigt der Energiebedarf seines Gehirns. Das Stresszentrum im Gehirn des Probanden arbeitet auf hoher Alarmstufe und fordert vermehrt Glukose an. Es braucht noch mehr Energie, um besser nachdenken zu können. Die Energiebestellung erfolgt über die Stresshormone Adrenalin und Kortisol, die aus der Nebenniere ausgeschüttet werden. Um sicherzustellen, dass die im Blut zirkulierende Glukose tatsächlich dem Gehirn zur Verfügung steht, ergeht außerdem über das sympathische Nervensystem der Befehl an die Bauchspeicheldrüse: »Stopp die Insulin-Ausschüttung!« Das Speicherhormon Insulin ist normalerweise nötig, um Muskulatur und Fettgewebe die Glukoseaufnahme zu ermöglichen. Aber der Stoff ist jetzt zu knapp, zu kostbar. Auf strikte Anordnung des Gehirns wird kein Insulin mehr ins Blut abgesondert, Muskulatur und Fett können folglich keine Glukose mehr aufnehmen. Die wird nun stattdessen verstärkt ins Gehirn transportiert. Denn das Gehirn ist das Organ, das im Gegensatz zu den meisten anderen Organen kein Insulin braucht, um Glukose aufzunehmen.
Doch damit ist die Krise längst nicht abgewendet. Die Prüfer setzen den Probanden weiter unter Druck, immer mehr Adrenalin und Kortisol werden freigesetzt. Auch der Befehl des sympathischen Nervensystems an die Bauchspeicheldrüse, das Insulin weiter aus dem Spiel zu halten, bleibt stark – so lange, bis das belastende und quälende »Examen« vorbei ist. Danach fällt das Adrenalin innerhalb von 30 Minuten wieder auf fast normale Werte. Das Kortisol sinkt deutlich langsamer (der Normalwert ist erst nach ein bis zwei Stunden erreicht), und der Insulinwert verharrt sogar über zwei bis drei Stunden unter dem Durchschnitt. Der akute Stress ist zwar vorbei, das Gehirn signalisiert aber immer noch einen Versorgungsengpass – und spart Energie durch Abschalten einiger Hirnfunktionen ein. So kommt es zu den beobachteten neuroglukopenischen Ausfallerscheinungen (Konzentrationsmangel, verlangsamtes Denken).
Die Lübecker Wissenschaftler führten den Versuch nun in die Schlussphase. Vier Stunden vor dem Test hatten alle Probanden ein identisches Mittagessen zu sich genommen. Danach durften sie keine weitere Nahrung zu sich nehmen. Nach dem Prüfungsstress gab es »zur Entschädigung« ein üppiges Buffet mit Käse, Wurst, Brot, Lachs, Fleischsalat, Muffins, Schokolade und
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