Das egoistische Gehirn: Warum unser Kopf Diäten sabotiert und gegen den eigenen Körper kämpft (German Edition)
System wesentlich raffinierter. Die Glukosetransporter in den Astrozytenwänden sind zwar wie Röhren, aber sie sind flexibel, gehen auf und zu. Sie öffnen sich, wenn die Zelle Energiebedarf hat, und sie schließen sich wieder, wenn der Bedarf gedeckt ist. Mit anderen Worten: Die Astrozyten nehmen aktiv Energie auf. Sobald nun der Glukosenachschub über die geöffneten Poren zum Astrozyten gelangt ist, wird er dort chemisch in Laktat (Milchsäure) umgeformt. Jetzt ist das Kohlenhydrat so weit raffiniert, dass es in der Nervenzelle verbrannt werden kann.
So weit das Funktionsprinzip. Aber woher weiß der Astrozyt, wann sein Neuron Energie benötigt? Und vor allem, wie viel? Der kanadische Physiologe Luc Pellerin vermutete, dass es eine Art chemisches Signal geben müsse, mit dem der Energieaustausch reguliert wird. Er experimentierte mit dem Botenstoff Glutamat, dem wichtigsten chemischen Überträgerstoff für Informationen von Nervenzelle zu Nervenzelle. Mit Glutamat kommen auch Astrozyten in Berührung, wenn sie mit ihren sternförmigen Ausstülpungen an den Kontaktstellen zwischen sendender und empfangender Nervenzelle andocken. Bei dieser Verbindung entsteht zwischen Neuron und Astrozyt ein Kontaktspalt, eine Art Schnittstelle, die dazu geeignet ist, Informationen aufzunehmen. Im Laborversuch wollte Pellerin belegen, dass der Astrozyt Glutamat in sich aufnimmt und auf die Befehle des Botenstoffs reagiert: Als der Wissenschaftler den Astrozyten, die er als Zellkultur angezüchtet hatte, eine bestimmte Menge Glutamat verabreichte, begannen die Zellen tatsächlich Glukose zu saugen und zu verarbeiten. Damit war dem Kanadier ein wichtiger Durchbruch gelungen: Die Hirnzelle selbst bestellt die benötigte Energie, und zwar mit Hilfe des Glutamats. Energy on demand , Energie auf Abruf, nannte Pellerin das Konzept, mit dem eine bis dahin in der Wissenschaft verbreitete These zumindest auf der Zellebene widerlegt wurde: nämlich dass die Gehirnversorgung nur vom Angebot aus dem Körper abhängt und das Gehirn auf diese Weise ausschließlich passiv versorgt wird. Stattdessen wusste man nun: Nervenzellen des Gehirns bestellen Energie und werden je nach Angebot und Nachfrage bedient.
Wenn sich Pellerins Erkenntnisse über die Energieregulierung auf zellulärer Ebene auch auf den Energiehaushalt unseres Körpers und auf die Leistungsfähigkeit unseres Gehirns übertragen ließen, könnte man die Frage beantworten, warum unser Gehirn sich den Löwenanteil Glukose sichern kann. Bei einer solchen Übertragung stößt man zwangsläufig auf das »Prinzip der Selbstähnlichkeit«. In der belebten und unbelebten Natur entdeckt man verblüffend oft das Phänomen, dass sich große und kleine Strukturen eines Systems auffallend ähneln. Vergrößert man zum Beispiel das Satellitenbild einer Küstenlinie immer weiter, stellt man fest, dass die Windungen und Einbuchtungen eines kleinen Strandabschnitts dem Verlauf der gesamten Küste erstaunlich gleichen. Es hat beinahe den Anschein, als befänden sich Mikrokosmos und Makrokosmos in einem Ideenaustausch.
Während sich Pellerin mit dem Mikrokosmos (Zellstoffwechsel) beschäftigte, forschte ich über den Makrokosmos (Energieversorgung der Organe). Als er mich 2002 erstmals in Lübeck besuchte, lautete unsere gemeinsame Kernfrage: Wie kommt die Energie in die Nervenzelle, beziehungsweise in die Organe und das Gehirn? Pellerin hatte diese Frage für seinen Bereich mit einem Laborexperiment erfolgreich beantwortet. Für die Selfish-Brain-Forschung würde dieser Nachweis auf der Ebene der Organe nicht so einfach zu erbringen sein. Muskeln, ein kompletter Blutkreislauf und ein Gehirn lassen sich nicht als Laborkultur in einer Nährlösung anlegen. Hier kam uns nun das Prinzip der Selbstähnlichkeit zu Hilfe. Träfe es auch in diesem Fall zu, würde das bedeuten, dass nicht nur eine Nervenzelle im kleinen Maßstab, sondern auch das Gehirn im großen Maßstab genau die Energiemenge anfordert, die es braucht – jede Sekunde, jede Minute, unser ganzes Leben lang, auch wenn wir schlafen.
Man kann sich vorstellen, wie schwierig es für den Körper sein muss, solchen permanenten Energieforderungen nachzukommen. Das Gehirn verhält sich dabei im Grunde wie der anstrengendste Gast eines Luxushotels, der den kompletten Service für sich beansprucht und das Personal Tag und Nacht tyrannisiert. Ist genug Energie im Blut? Gelangt sie schnell genug ins Gehirn? Ist der Nachschub gesichert? Wie lange
Weitere Kostenlose Bücher