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Das egoistische Gen

Titel: Das egoistische Gen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Dawkins
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Dies ist der Punkt, an dem Wynne-Edwards anderer Meinung ist als die orthodoxen Evolutionstheoretiker. Er glaubt, es gäbe einen Weg, wie die Evolution zu einer echten selbstlosen Geburtenkontrolle führen kann.
    Eine Tatsache wird in den Schriften von Wynne-Edwards oder in Ardreys populärer Darstellung seiner Vorstellungen nicht erwähnt, nämlich daß es eine große Menge akzeptierter Fakten gibt, über die keine Meinungsverschiedenheiten bestehen. Es ist eine offenkundige Tatsache, daß freilebende Tierpopulationen nicht mit den astronomischen Raten wachsen, deren sie theoretisch fähig wären. Manche sind relativ stabil, wobei Geburten- und Sterberate sich ungefähr die Waage halten. In vielen Fällen – ein berühmtes Beispiel sind die Lemminge – fluktuiert die Populationsgröße stark, heftige Bevölkerungsexplosionen wechseln sich ab mit Zusammenbrüchen und Rückgängen fast bis zum Aussterben.
    Gelegentlich ist das Resultat ein völliges Aussterben, zumindest der Population eines begrenzten Gebiets. Manchmal scheint die Population rhythmisch zu schwanken, etwa im Fall des kanadischen Luchses. Darauf deutet zumindest ein Vergleich der Anzahl von Fellen hin, die die Hudson Bay Company in aufeinanderfolgenden Jahren verkauft. Das einzige, was es bei Tierpopulationen nicht gibt, ist unbegrenztes Wachstum.
    Freilebende Tiere sterben fast niemals an Altersschwäche: Sie fallen dem Hungertod, Krankheiten oder Räubern zum Opfer, lange bevor sie wirklich altersschwach werden. Bis vor kurzem traf diese Aussage auch auf den Menschen zu. Die meisten Tiere sterben im Kindesalter, und viele gelangen nicht über das Eistadium hinaus. Verhungern und andere Todesursachen sind letztlich die Gründe dafür, daß Populationen nicht unbegrenzt wachsen können. Doch es gibt, wie wir bei unserer eigenen Art gesehen haben, keinen zwingenden Grund, warum es jemals soweit kommen muß. Würden die Tiere ihre Geburtenraten   kontrollieren, so gäbe es keinen Hungertod. Die These von Wynne-Edwards besagt, daß sie ebendies tun. Aber selbst in diesem Punkt gehen die Meinungen weniger auseinander, als der Leser dieses Buches meinen könnte. Die Anhänger der Theorie des egoistischen Gens würden ohne weiteres zustimmen, daß die Tiere tatsächlich   ihre Geburtsraten regulieren. Jede Art hat gewöhnlich eine mehr oder weniger feste Gelege- oder Wurfgröße – kein Tier bekommt unendlich viele Junge. Die Meinungsverschiedenheiten betreffen nicht die Frage, ob   Geburtenraten reguliert werden. Uneinigkeit besteht vielmehr darüber, warum   sie reguliert werden: Durch welchen Prozeß der natürlichen Auslese hat sich die Familienplanung entwickelt? Mit anderen Worten, die Meinungen gehen darüber auseinander, ob die Geburtenkontrolle bei Tieren altruistisch ist, das heißt zum Wohle der Gruppe praktiziert wird, oder ob sie egoistisch ist, also zum Wohle des sich reproduzierenden Individuums geschieht. Ich werde mich nacheinander mit beiden Theorien befassen.
    Wynne-Edwards äußerte die Vermutung, daß die Individuen zum Wohle der ganzen Gruppe weniger Nachkommen haben, als sie zu bekommen fähig sind. Er war sich darüber im klaren, daß die normale Selektion unmöglich zur Evolution eines solchen Altruismus führen kann: Die natürliche Auslese unterdurchschnittlicher Fortpflanzungsraten ist schon auf den ersten Blick ein Widerspruch in sich. Daher holte er die Gruppenselektion zu Hilfe, wie wir im ersten Kapitel gesehen haben. Seiner Ansicht nach ist die Wahrscheinlichkeit des Aussterbens bei Gruppen, deren einzelne Angehörige ihre Geburtenrate selbst beschränken, geringer als bei rivalisierenden Gruppen, deren Mitglieder sich derart rasch vermehren, daß sie das Nahrungsangebot gefährden. Daher wird die Welt von Gruppen bevölkert, deren Angehörige sich bei der Produktion von Nachwuchs zurückhalten. Die individuelle Zurückhaltung, die Wynne-Edwards suggeriert, läuft allgemein gesprochen auf Geburtenkontrolle hinaus, doch präzisiert er dies weiter und bringt in der Tat eine eindrucksvolle Konzeption vor, welche die Gesamtheit des sozialen Lebens als einen Mechanismus zur Populationsregulation versteht. Zwei wichtige Merkmale des Soziallebens bei vielen Tierarten sind beispielsweise Territorialverhalten   und Dominanzhierarchien,   die beide bereits in Kapitel 5 erwähnt wurden.
    Viele Tiere verwenden einen großen Teil ihrer Zeit und Energie auf die offensichtliche „Verteidigung“ eines Stückes Gelände, das die

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