Das egoistische Gen
Zoologen als Territorium bezeichnen. Dieses Phänomen ist im Tierreich weit verbreitet, nicht nur bei Vögeln, Säugetieren und Fischen, sondern auch bei Insekten und sogar Seeanemonen. Das Territorium kann ein größeres Waldareal sein, das beispielsweise einem Brutpaar Rotkehlchen als Hauptgebiet für die Futtersuche dient. Oder es kann, wie bei den Silbermöwen, eine kleine Fläche sein, die keine Nahrung bietet, doch in deren Mitte ein Nest liegt. Wynne-Edwards ist überzeugt davon, daß Tiere, die um ein Territorium kämpfen, um einen symbolischen und nicht um einen wirklichen Preis, beispielsweise um ein Stück Nahrung, kämpfen. In vielen Fällen weigern Weibchen sich, sich mit einem Männchen zu paaren, das kein Revier besitzt. Es kommt sogar häufig vor, daß ein Weibchen, dessen Männchen besiegt wird und sein Territorium verliert, sich prompt dem Sieger anschließt. Selbst bei augenscheinlich treuen, monogamen Arten ist das Weibchen möglicherweise eher mit dem Revier des Männchens als mit ihm selbst verheiratet.
Wenn eine Population zu groß wird, werden einige Individuen ohne Territorium bleiben und sich daher nicht vermehren. Die Eroberung eines Territoriums ist für Wynne-Edwards daher wie der Gewinn einer Erlaubnis zum Fortpflanzen. Es steht nur eine begrenzte Zahl von Revieren zur Verfügung, und dies wirkt sich so aus, als würde nur eine begrenzte Anzahl von Fortpflanzungsgenehmigungen ausgestellt. Die einzelnen Tiere mögen darum kämpfen, wer die Genehmigungen bekommt, aber der Gesamtzahl des Nachwuchses, den die Population haben kann, ist durch die Zahl der verfügbaren Territorien eine Grenze gesetzt. In einigen Fällen, beispielsweise beim Schottischen Moorschneehuhn, hat es tatsächlich auf den ersten Blick den Anschein, als hielten sich die Individuen zurück, denn diejenigen, die keine Territorien erringen können, vermehren sich nicht nur nicht, sie scheinen auch den Kampf um ein Revier aufzugeben. Es sieht so aus, als ob sie alle die Spielregeln akzeptierten: Wenn sich jemand bis zum Ende der Wettkampfperiode nicht eine der offiziellen Eintrittskarten für die Vermehrung gesichert hat, so verzichtet er freiwillig darauf, sich fortzupflanzen, und läßt die Erfolgreichen in Ruhe, damit sie den Fortbestand der Art sichern können.
Die Dominanzhierarchie interpretiert Wynne-Edwards auf eine ähnliche Weise. Bei vielen Tiergruppen, vor allem in Gefangenschaft, in einigen Fällen aber auch in freier Wildbahn, lernen die Tiere, einander individuell zu erkennen, und sie lernen außerdem, wen sie im Kampf besiegen können und von wem sie selbst gewöhnlich besiegt werden. Wie wir in Kapitel 5 gesehen haben, unterwerfen sie sich gewöhnlich den Individuen, von denen sie „wissen“, daß sie ihnen wahrscheinlich sowieso unterliegen würden. Daher kann ein Zoologe eine Dominanzhierarchie oder „Hackordnung“ (so genannt, weil sie zum ersten Mal bei Hennen beschrieben wurde) aufstellen – eine gesellschaftliche Rangordnung, in der jeder seinen Platz kennt und keiner auf Gedanken kommt, die seinem Rang nicht angemessen sind. Natürlich finden hin und wieder wirklich ernste Kämpfe statt, und zuweilen können einzelne Tiere eine Beförderung über ihre früheren unmittelbaren Ranghöheren hinaus erringen. Doch wie wir in Kapitel 5 gesehen haben, wirkt sich die automatische Unterwerfung der rangniederen Individuen im allgemeinen so aus, daß tatsächlich wenige langwierige Kämpfe stattfinden und selten schwere Verletzungen vorkommen.
Viele Leute halten dies auf verschwommen gruppenselektionistische Weise für eine „gute Sache“. Wynne-Edwards’ Interpretation ist aber sehr viel kühner. Die Wahrscheinlichkeit, sich zu vermehren, ist für ranghöhere Individuen größer als für rangniedere, entweder weil die Weibchen ranghöhere Männchen vorziehen oder weil diese mit physischer Gewalt rangniedere Männchen daran hindern, in die Nähe der Weibchen zu gelangen. In Wynne-Edwards’ Augen ist hoher sozialer Rang eine weitere Eintrittskarte, die zur Reproduktion berechtigt. Statt unmittelbar um die Weibchen selbst zu kämpfen, kämpfen die Individuen um sozialen Status und akzeptieren dann, daß sie nicht zur Fortpflanzung berechtigt sind, wenn sie nicht hoch oben auf der sozialen Leiter ankommen. Sie halten sich, wenn es um die Weibchen selbst geht, zurück – obwohl sie immer wieder einmal versuchen mögen, einen höheren Status zu erringen; man könnte daher sagen, daß sie mittelbar
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