Das egoistische Gen
sie mehr Veranlassung zu der Überzeugung haben, mit dem Kind verwandt zu sein. Sie wissen, daß die Mutter des Kindes zumindest ihre Halbschwester ist. Der „offizielle“ Vater weiß gar nichts. Ich kann für diese Voraussagen keine Beweise anführen, aber ich bringe sie in der Hoffnung vor, daß andere Beweise kennen oder vielleicht danach zu suchen beginnen. Insbesondere die Sozialanthropologen haben möglicherweise interessante Dinge zu sagen. 12
Kehren wir zu der Tatsache zurück, daß elterlicher Altruismus weiter verbreitet ist als geschwisterlicher Altruismus: Es scheint in der Tat vernünftig zu sein, dies mit dem „Identifizierungsproblem“ zu erklären. Die grundlegende Asymmetrie in der Eltern-Kind-Beziehung selbst läßt sich so jedoch nicht begründen. Eltern tragen mehr Sorge um ihre Kinder als umgekehrt, obwohl die genetische Verwandtschaft und die Gewißheit darüber in beiden Richtungen gleich groß ist. Ein Grund dafür ist, daß die Eltern in der Praxis besser in der Lage sind, ihren Jungen zu helfen, da sie älter und im Geschäft des Lebens erfahrener sind. Selbst wenn ein Baby seine Eltern füttern wollte, ist es nicht gut dafür ausgerüstet, dies auch tatsächlich zu tun.
Es gibt noch eine weitere Asymmetrie in der Eltern-Kind-Beziehung, die auf das Verhältnis zwischen Geschwistern nicht zutrifft. Kinder sind immer jünger als ihre Eltern. Das bedeutet häufig, wenn auch nicht immer, daß ihre Lebenserwartung größer ist. Wie ich oben betont habe, ist die Lebenserwartung eine wichtige Variable, die das Tier in der vollkommensten aller möglichen Welten in seine „Rechnung“ einbeziehen sollte, wenn es „entscheidet“, ob es sich uneigennützig verhalten soll oder nicht. In einer Spezies, in der die durchschnittliche Lebenserwartung der Kinder größer ist als die der Eltern, wäre jedes Gen für altruistisches Verhalten des Kindes im Nachteil.
Es würde eine altruistische Selbstaufopferung zugunsten von Individuen herbeiführen, die dem Tod aus Altersgründen näher sind als der Altruist selbst. Ein Gen für Elternaltruismus dagegen wäre, was die Komponenten für Lebenserwartung in der Gleichung betrifft, entsprechend im Vorteil.
Manchmal hört man sagen, Familienselektion als Theorie sei schön und gut, aber in der Praxis gäbe es wenig Beispiele für ihr Wirken. Diese Kritik kann nur von jemand kommen, der nicht versteht, was Familienselektion bedeutet. In Wirklichkeit sind alle Fälle, in denen Kinder beschützt werden, und alle Beispiele elterlicher Sorge sowie alle damit zusammenhängenden Organe des Körpers – Milchdrüsen, Känguruhbeutel und so weiter – Beispiele für das Wirken des Prinzips der Familienauslese in der Natur. Natürlich ist den Kritikern die weite Verbreitung der Brutpflege bekannt, doch können sie nicht verstehen, daß elterliche Fürsorge nicht weniger ein Beispiel für Verwandtschaftsselektion ist als geschwisterlicher Altruismus.
Wenn sie sagen, sie wollen Beispiele, so meinen sie damit, sie wollen andere Beispiele als die elterliche Fürsorge, und es ist richtig, daß solche Beispiele weniger verbreitet sind. Ich habe auf Gründe hingewiesen, weshalb dies so sein könnte.
Ich hätte mich besonders bemühen können, Beispiele geschwisterlicher Selbstlosigkeit anzuführen – es gibt in der Tat gar nicht so wenige. Doch ich möchte dies nicht tun, weil es die irrige Ansicht verstärken würde (die, wie wir gesehen haben, von Wilson gefördert wird), daß die Familienselektion spezifisch mit solchen Beziehungen zu tun hat, die keine Eltern-Kind-Beziehungen sind.
Der Grund für das Entstehen dieses Irrtums ist weitgehend historischer Natur. Der evolutionäre Vorteil der elterlichen Fürsorge ist derart augenfällig, daß wir nicht auf Hamilton warten mußten, um darauf aufmerksam zu werden. Die Zusammenhänge sind seit Darwin verständlich. Als Hamilton die genetische Gleichwertigkeit anderer Beziehungen und deren evolutionäre Bedeutung bewies, mußte er natürlich das Gewicht auf diese anderen Beziehungen legen. Er entnahm seine Beispiele vor allem der Biologie sozialer Insekten wie Ameisen und Bienen, bei denen die Schwester-Schwester-Beziehung besonders wichtig ist, wie wir in einem späteren Kapitel sehen werden. Ich habe sogar Leute sagen hören, sie meinten, Hamiltons Theorie gelte nur für die sozial lebenden Insekten! Wenn jemand nicht zugeben möchte, daß elterliche Fürsorge ein Beispiel für das Wirken der Familienauslese ist,
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