Das einsame Herz
Abendwind rauschen …«
»Ihn hat's gepackt!« schrie der Riese auf. »Heilige Einfalt – der Kerl ist verliebt! Habe ich dich nicht gewarnt?! Seit Jahr und Tag geht es so. Ein Geselle kommt, sieht die Jungfer Trudel, schmachtet in der Laube und sitzt am nächsten Tag vor der Tür! Kreuzsakramentnochmal – könnt ihr Jammerlappen euer Herz nicht ein wenig in die Hand nehmen! Soll es mit dir genauso gehen? Sieben Gesellen zogen binnen einem Jahr hier ein und zogen umgehend auch wieder hinaus, alle wegen Jungfer Trudel! Und jetzt fängt der Kerl auch an. Lieder am Abend! Spinett. Grillengesang, sommerlicher Abendwind! Mein Gott – laß ihn nüchtern werden!«
Otto Heinrich Kummer schüttelte lächelnd den Kopf. Er legte dem Freunde den rechten Arm um die Schulter und blickte nachdenklich empor an das Dach der Hütte. Tief atmete er auf.
»Es ist nicht Liebe, Bendler, alter Brummbär. Es ist ein bißchen Sehnsucht nach dem Leben, das ich nur in der Fantasie kenne. Ein wenig Träumen nach der Seele, die man so selten findet. Wie könnte ich lieben? Ich, ein Mensch, der nicht weiß, warum er lebt?! Könnte ich lieben, so könnte ich auch das Leben bejahen – aber weil ich das Leben, so, wie es ist, verachte, kann ich auch nicht lieben.« Und leise sagte er: »… auch wenn ich es möchte …«
Willi Bendler blickte ihn von der Seite an.
»Hast du einmal etwas von Maltitz gehört?« fragte er.
»Maltitz? Nein.«
»Es ist ein revolutionärer Dichter. Gotthilf August Freiherr von Maltitz, ein feuriger Geist, der kein Pardon mit der Fäule unserer Zeit kennt. Er hat einen Band politischer Gedichte geschrieben. ›Pfefferkörner‹ nennt er ihn. Und sie sind gepfeffert und gesalzen, daß den Bürgern und Speichelleckern die Augen tränen!«
»Ich habe nie von ihm gehört«, sagte nachdenklich Otto Heinrich.
»Ein Feuergeist, wie ich schon sagte. Man sollte seine Gedichte in aller Munde bringen!«
»Man müßte sie erst lesen«, antwortete Kummer vorsichtig.
»Sollst du, sollst du – ich habe zwei Bücher bestellt. Sie sollen mit der nächsten Post aus Dresden kommen. Selbst in Berlin erregt dieser Maltitz die Gemüter mit seinen spöttischen Liedern, ein zweiter Posa, der das Ideal des Staates aufruft!«
»Es gibt so viele Worte«, sagte Kummer sinnend. »Was die Zukunft braucht, sind Taten!«
»Am Anfang stand das Wort«, sagte Bendler laut.
»Das Wort. Wer hörte auf Schiller? Auf Kleist? Einen Schubart ließ man auf der Festung verfaulen, einen Körner schickte man in die Schlacht, wo er zur rechten Zeit fiel, einen Grabbe verschreit man als irr, und einem Fichte hört man zu wie einem guten Advokaten. Das Volk saugt ihre Worte auf, ja, es wäre bereit, die Fahne der Freiheit selbst in die Hand zu nehmen und die Draperien von überlebten Etiketten zu reißen … Aber sie kommen nicht dazu. Jene, die kraft ihres Namens oder ihres Beutels die Fäden der Völker ziehen, lassen sich nicht bestimmen durch Worte und Gesänge – sie rechnen nur, sie haben das Hauptbuch der Völker aufgeschlagen und addieren und subtrahieren mit der Nüchternheit eines Herrn Knackfuß! Glaubst du, du könntest ihn mit deinem Maltitz bekehren?«
»Ich säße morgen vor der Tür!«
Kummer lächelte. »Was nützt dir da das feurigste Gedicht?«
Der Riese Bendler schien es einzusehen.
Sinnend starrte er vor sich auf den Sand, trommelte mit dem Pfeifenstiel auf seinen breiten Fingernägeln und hatte die Unterlippe nach vorn geschoben, daß sie wie eine Schaukel wirkte.
»So geht das Leben aber nicht weiter«, murmelte er. »Die Französische Revolution fegte die Klassen der Gesellschaft hinweg. Napoleon war ein Rückfall, der den deutschen Geist endlich erweckte – beide starben sie an ihrer inneren Erweichung. Aber was blieb von allem in Deutschland zurück? Lebt der Geist Rousseaus noch? Wo ist die Freiheit des Individuums? – Ich könnte mich übergeben, sehe ich mir den deutschen Bürger an!«
»Wir ändern es nicht«, antwortete Kummer und erhob sich. »Das Morsche braucht seine Zeit, ehe es zusammenstürzt. Vielleicht Jahrzehnte noch, vielleicht auch Jahrhunderte – das Bürgertum, die sogenannte privilegierte Klasse stirbt aus, und was sich erheben wird, ist das Recht des Menschen auf Individualität und Gleichheit vor dem Rhythmus des Lebens. Was wir können, ist, unser Leben heute schon zu leben zum Trotz der stehenden hohlköpfigen Ordnung der première classe!«
Plötzlich drehte sich Kummer um, fegte mit der
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