Das einsame Herz
sagen: war es Heimweh, Glück, Wehmut oder die Angst vor einer Zukunft, der er mit bangen Ahnungen entgegenfuhr.
In der zweiten Nacht der Reise passierte die schwankende Kutsche unter klirrendem Frost die Stadt Freiberg und wandte sich dann von der Hauptstrecke ab, um auf einer Nebenstraße die Route durch das südwestliche Erzgebirge zu erreichen.
Es war eine dunkle, eisig windige Nacht. Die Reisenden hatten sich in ihre Pelze und Fußsäcke gedrückt, schliefen, indem sie sich gegenseitig stützten, oder brüteten vor sich in die Dunkelheit, die Unbequemlichkeit der Fahrt verdammend und leise ächzend bei jedem Stoß, der den schwankenden Holzkasten in allen Fugen schüttelte, wenn die Räder durch die tiefen Löcher der ungepflegten Straße sprangen.
Die kleinen Fenster zu beiden Seiten der Kutsche waren von innen verhängt. Auf dem Bock saß der Postillion im dicken Pelz und fluchte.
Weiß wehte aus den Nüstern der Pferde der Atem in die Kälte.
Als die Kutsche in die Nebenstraße einbog, um dann mit verstärktem Trab in die Wälder zu fahren, hatte niemand in der Kutsche noch der Postillion bemerkt, wie sich aus dem Gebüsch an der Kreuzung eine Gestalt löste, wieselschnell an die Rückwand der Post sprang, sich an einer der langen gebogenen Gepäckstangen festklammerte und ein Stück mitlief, ehe sie sich an einigen Schnürriemen emporzog und auf den Proviantkasten dicht unter das schmale Rückfenster setzte.
Bekleidet mit einem weiten Mantel und einem tief ins Gesicht gedrückten, breiten Schlapphut, saß die Gestalt schwarz und in sich zusammengezogen über den schwankenden Rädern. Durch die dünne Holzwand hörte sie das Hüsteln der Reisenden, lächelte bei einem saftigen Fluch des Postillions und schnalzte mit der Zunge mit, wenn die Peitsche klatschend über die zitternden Pferderücken zischte.
»Monsieur«, sagte plötzlich eine Dame zu ihrem Nachbarn und richtete sich ein wenig auf. »Mir war es, als habe sich draußen an der Hinterwand etwas geregt! Mon Dieu – es gibt hier doch keine Räuber?«
»Es ist der Wind«, murmelte ihr Begleiter verschlafen. »Der Wind, Madame. Räuber …« Er gähnte laut. »Räuber gibt's hier nicht …«
Nach wenigen Augenblicken schlief er weiter.
»Ich gehe nicht davon ab: es rührt sich etwas an der Rückwand«, flüsterte die Dame nach einer Weile. »Eben war es wieder! Haben Sie es auch gehört?«
Otto Heinrich, der vor sich hinbrütend angestoßen wurde, schreckte auf.
»Wie bitte?« stotterte er. »Was sagten Sie, Madame?«
»Draußen an der Rückwand rührt sich etwas!«
»So lassen Sie doch den Postillion halten.«
Die Dame zögerte. »Ich kann mich auch verhört haben …«
»Bestimmt, Madame, bestimmt.«
Die Kutsche klapperte weiter durch die eisige Nacht.
Auf dem Proviantkasten kauerte noch immer die schwarze Gestalt.
Sie kicherte und räkelte sich auf dem breiten Sitz. Sogar eine Pfeife rauchte sie und verdeckte den glimmenden Schein des Tabaks mit der Hand.
Erst als das Morgengrauen über die Wälder stieg und der bleierne Himmel fahl und bedrückend wurde, sprang die Gestalt mit einem weiten Satz vom Wagen auf die glatte Straße, sah der Kutsche nach, bis sie um eine Wegbiegung verschwand, und eilte dann quer durch den Wald, bis sie im Unterholz verschwand.
Nur einmal blieb der stumme Gast stehen, kurz nachdem er von der Kutsche sprang, und nahm den breiten Schlapphut ab, sich über die Haare streichend.
Es war Willi Bendler …
Schon als Kind hatte Willi Bendler gute Augen. Und er war stolz darauf gewesen, wenn sein Vater sagte: »Der sieht wie eine Katze« und ihn aus der ganzen Geschwisterschar auswählte, bei Nacht das Feuerholz aus dem Schuppen zu holen.
Nun aber …
Kein Hauch Licht. Sterne und Mond verbargen sich hinter einer schweren Wolkendecke. Und der Hang hier nichts als schwarzes Unterholz.
Willi Bendler fluchte, schob einen Zweig aus dem Gesicht, überlegte es sich, rannte in langen Sprüngen zur Straße zurück. Die Kurve, ja, das war die Stelle. Gleich dahinter mündete der Ziehweg, der zur Köhlerhütte führte. Aber hier war kein Durchkommen. Er ging weiter. Eine Tannenschonung. Dann versanken die Füße bis zu den Schäften der Stiefel im Laub, und schließlich tauchten wieder schwarz wie Scherenschnitte große Bäume aus dem Dunkel auf, der Himmel wurde lichter – ja, da mußte der Weg sein. Und da war er auch.
Bendler reckte sich zu seiner ganzen Größe, legte die Hände an den Mund: »Uuiuu!«
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