Das einzige Kind
Korridor, wo im trüben Licht, das durch das eingeschlagene Fenster hereinströmte, eine Treppe zum Erdgeschoß zu sehen war. Zum Glück war die Tür am Ende der Treppe nicht abgeschlossen.
Der Kühlschrank quoll nicht gerade über von Lebensmitteln.
Milch hatten sie zum Beispiel nicht. Er konnte auch kein Brot entdecken, obwohl er überall suchte. Aber in einem Fach in der 55
Kühlschranktür gab es einige Eier, und Olav wußte, wie Eier gekocht werden. Als erstes muß das Wasser kochen, dann legt man die Eier sieben Minuten lang hinein. Er hatte zwar noch nie Eier und Fischklöße zusammen gegessen, aber das spielte jetzt keine Rolle. Er hatte solchen Hunger. Es fiel ihm gar nicht leicht, beim Essen nicht die Wunde in seiner Zunge zu berühren, und immer wieder blieb etwas in den Fäden hängen, aber es ging irgendwie. Und im Kühlschrank standen jede Menge Konservendosen.
Er schlief erst um zwei ein, in einer dunklen Küche, mit einem langen Damenmantel, den er im Flur gefunden hatte, als einziger Decke. Er war total erschöpft und konnte einfach nicht mehr überlegen, was er am nächsten Tag machen sollte. Es spielte auch keine Rolle. Jetzt wollte er nur schlafen.
Mit nur drei Jahren hat er mich dann zum erstenmal verletzt. Im Grunde war es nicht seine Schuld. Er war eben ein riesengroßer Dreijähriger. Obwohl er sehr viel mitbekam und im Kindergarten gelobt wurde, weil er so klug war (vielleicht wollten die mich ja nur trösten), konnte er nach wie vor nur zehn Wörter. Mama gehörte nicht dazu. Er war bestimmt das einzige Kind in der Weltgeschichte, das nicht » Mama « sagen konnte. Die Kindergärtnerin beruhigte mich und sagte, alle Kinder seien unterschiedlich. Sie habe einen Bruder, der Professor sei, sagte sie, und der habe erst mit vier Jahren sein erstes Wort gesprochen. Als ob mich das interessierte!
Ich hatte gerade gekocht. Er saß auf seinem Kinderstuhl, den ich von dem Geld vom Jugendamt gekauft hatte. Der Sicherheitsgurt war schon fast zu eng, aber ich konnte ihn doch nicht weglassen, Olav war noch nicht alt genug. Er quengelte noch mehr als sonst. Ich hatte unglücklicherweise die Fischstäbchen anbrennen lasssen, ich hatte plötzlich Magenprobleme bekommen und war ein wenig zu lange auf dem Klo geblieben. Die verkohlten Reste waren ungenießbar, aber 56
zum Glück hatte ich noch eine Packung in der Tiefkühltruhe.
Olav wurde langsam ungeduldig. Und sein Geschrei machte mich entsetzlich nervös. Sein lautes, tränenloses und von wildem Herumfuchteln begleitetes Geschrei. Die Nachbarn sahen mich schon vielsagend an, wenn ich mir zu lange am Müllschacht zu schaffen machte und unfreiwillig einem von ihnen begegnete, sicher hatten sie ihn auch diesmal gehört.
Ich hatte nur eine Tüte Lakritzschiffchen, um ihn ein bißchen abzulenken. Die waren schnell verschwunden. Als ich endlich fünf Fischstäbchen aus der Bratpfanne auf seinen Teller mit Karius und Baktus legen konnte, dachte ich, er wäre jetzt zufrieden. Nachdem ich die Bratpfanne warmgestellt hatte, setzte ich mich ihm gegenüber hin und schälte zwei Kartoffeln.
Er sah zufrieden aus mit seinem Mund voll Fisch. Ich lächelte ihn an, er sah so niedlich und engelhaft aus auf seinem Stühlchen, so still und zufrieden. Ich griff nach seiner Hand.
Und ohne irgendeine Vorwarnung stach er mir die Gabel in den Handrücken. Es war zum Glück nur eine Kindergabel, so eine mit nur drei Zinken, eher wie eine Kuchengabel. Aber sie riß meine Haut auf mit einer Kraft, die niemand einem Dreijährigen zutrauen würde. Das Blut spritzte nur so hoch. Ich war wie gelähmt und konnte gar nichts machen. Er riß die Gabel aus der Wunde und stach mit aller Kraft noch einmal zu.
Es tat unbeschreiblich weh. Aber schlimmer noch war, daß ich so schreckliche Angst hatte. Vor mir saß ein Dreijähriger, und ich hatte größere Angst vor ihm, als ich je vor seinem Suffkopp von Vater gehabt hatte.
Himmel, ich hatte Angst vor meinem dreijährigen Sohn!
Terje Welby lag schon seit drei Stunden wach, wenn sich der Schlaf zu nähern schien, sprudelte plötzlich und gegen seinen Willen das Adrenalin wieder hoch. Seine Bettwäsche war schon schweißnaß. Er wälzte sich von einer Seite auf die andere und 57
jammerte. Sein Rücken quälte ihn. Er legte sich das Kissen auf den Kopf und murmelte verbissen vor sich hin: »Ich muß schlafen. Ich muß schlafen.«
Das Telefon schellte.
Er stieß so heftig mit der Hand gegen die Nachttischlampe, daß der gläserne
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