Das einzige Kind
«
Wütend bückte sie sich über den Papierkorb und fischte die ramponierte Packung zwischen Papier und Apfelresten heraus.
Zwei Zigaretten waren zwar zerknickt, hatten aber überlebt. Sie steckte eine an und machte zwei tiefe Züge.
»So. Wo waren wir noch gleich?«
Billy T. ließ seine Hände, die er während Hannes Ausbruch erhoben hatte, sinken.
»Tut mir leid, tut mir leid, Hanne. Ich wollte wirklich nicht
…«
»Schon gut«, unterbrach sie ihn mit einem kleinen Lächeln.
»Technische Spuren.«
»Jede Menge«, murmelte Billy T., beschämt und noch immer überrascht von ihrem Wutanfall. »Überall Fingerabdrücke, nur nicht da, wo wir welche brauchen. Auf dem Messer nämlich. Da gibt’s keinen einzigen. Ein ganz normales Messer. Bei IKEA gekauft. Also gerade da, wo wir unmöglich herausfinden können, wer was gekauft hat. Die verkaufen doch eine Million Messer. Und was die Fußspuren angeht …« Er erhob sich ein wenig. »… so sind sie aufgeweicht und kaum etwas wert. Du hast dir die Fläche da draußen ja selber angesehen. Aber die Technik arbeitet weiter. Wahrscheinlich stammen sämtliche Spuren von Bewohnern und Angestellten des Heims. Mit anderen Worten …«
Wieder unterbrach Hanne ihn: »Mit anderen Worten, wir haben es mit der spannendsten klassischsten Polizeiarbeit zu tun!«
Sie beugte sich vor und lächelte. Billy T. tat es ihr nach, und mit nur zwanzig Zentimetern Zwischenraum zwischen ihren Gesichtern sagten sie im Chor: »Taktische Ermittlung!«
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Sie lachten, und Hanne schob ihm einen kleinen Stapel mit Maschine beschriebener Blätter hin.
»Das ist eine Liste über alle Kinder und Angestellten des Heims. Maren Kalsvik hat sie aufgestellt.«
»Dann gehen wir mit einer Prise Skepsis ans Werk, denn sie gehört schließlich auch zu den Verdächtigen.«
»Die Liste ist vollständig«, sagte Hanne kurz. »Aber jetzt schau her!«
Die Liste enthielt einen kurzen Lebenslauf aller Angestellten.
Der Jüngste war der erst zwanzig Jahre alte Christian. Die Älteste war eine gewisse Synnøve Danielsen, die seit der Eröffnung des Heims 1967 dort tätig war. Wie Christian hatte auch sie keine Ausbildung, anders als er jedoch eine Menge Erfahrung. Ansonsten arbeiteten drei Sozialarbeiter in dem Heim, zwei Leute aus der Diakonie, drei Pädagogen, eine Vorschullehrerin und ein Automechaniker. Der letzte auf der Liste, Terje Welby, war Lehrer für die Fächer Geschichte, Pädagogik und Literatur.
Das Kinderheim Frühlingssonne wurde von der Heilsarmee betrieben, aber die Gelder stammten größtenteils vom Staat. Es gab dort elfeinhalb Arbeitsplätze und vierzehn Angestellte.
»Jetzt nur noch dreizehn«, sagte Billy T. lakonisch. »Wer hat die Heimleitung übernommen?«
»Terje Welby, wenn ich das richtig verstanden habe, schließlich ist er offiziell der stellvertretende Heimleiter. Aber er hat sich bei der Feuerübung den Rücken verknackst und ist heute krank geschrieben worden. Ich nehme an, Maren leitet jetzt den Laden.«
»Hmm. Das kommt ja gelegen.«
»Was denn?«
»Daß er krank geschrieben ist.«
»Das müssen wir genauer überprüfen.«
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»Das ist ja wohl kein Problem. Schwieriger ist es schon, bei dieser ganzen Bande Motive zu finden.«
»Motive gibt’s immer. Das Problem ist nur, jemanden mit einem ausreichend starken Motiv zu finden. Außerdem kann es auch ein Außenstehender gewesen sein oder eins der Kinder.
Klingt zwar nicht sehr wahrscheinlich, aber wir dürfen keine Möglichkeit ausschließen. Sind die Kinder schon verhört worden?«
»Nur ganz kurz. Mir kommt das absolut unwahrscheinlich vor.
Die Nachtwache hatte doch gerade einen Rundgang gemacht, ehe sie die Leiche gefunden hat, und müßte sehen können, ob Kinder wirklich schlafen oder sich verstellen. Dieser Typ würde beschwören, daß alle tief geschlafen haben. Und nur ein kleiner Teufel würde doch so eine ›Tante‹ ermorden, um dann in den Schlaf des Gerechten zu sinken.« Er rieb sich das Gesicht.
»Nein, die einzige Möglichkeit wäre dieser Verschwundene. Der ist angeblich ein harter Brocken. Ganz neu, erst seit drei Wochen da. Sehr eigen und schwierig.«
Hanne Wilhelmsen blätterte in ihren Unterlagen.
»Ein Zwölfjähriger! Ein Zwölfjähriger! Der hat doch wohl kaum Kraft genug, ein Messer durch Haut und Knochen mitten ins Herz einer kräftigen Frau zu stoßen.«
Sie drückte energisch in einem geschmacklosen Aschenbecher aus braunem Glas ihre Kippe aus.
»Der soll aber riesig groß
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