Das einzige Kind
sein, weißt du«, beharrte Billy T.
»Abnorm riesig.«
»Auf jeden Fall ist es ein schlechter Ausgangspunkt, wenn wir uns auf einen Zwölfjährigen konzentrieren. Wir lassen das erst mal offen.«
Dann fügte sie hinzu: »Trotzdem müssen wir ihn natürlich unbedingt finden. Aus vielen Gründen. Er kann etwas gesehen haben. Aber bis auf weiteres müssen wir nach besten Kräften im 64
Privatleben all dieser Leute herumstochern. Sieh dir alles an.
Finanzen, Liebschaften, sexuelle Neigungen …«
Eine leichte Röte breitete sich unterhalb ihrer dunkelblauen Augen aus, und sie steckte sich die letzte brauchbare Zigarette an, um davon abzulenken.
»Familienprobleme. Alles. Und wir müssen Leben und Tätigkeit des Opfers unter die Lupe nehmen. Also, mach dich an die Arbeit.«
»Dann schaue ich erst noch einmal im Heim vorbei und sehe nach, ob unser Mörder noch andere Einstiegs- und
Fluchtmöglichkeiten gehabt haben kann«, sagte Billy T. und erhob sich.
Inzwischen war es halb drei geworden. Hanne Wilhelmsen dachte kurz nach und rechnete aus, daß sie um fünf zu Hause sein könnte.
»Ich komme mit«, erklärte sie und folgte ihm über den blauen Linoleumboden zu den Fahrstühlen.
»Du bist einfach nicht zur Hauptkommissarin geschaffen, Hanne«, sagte er mit lautem Lachen. »In deiner Birne sitzt viel zuviel Neugier.«
»Deine Fresse!« antwortete sie aufgesetzt knurrig.
Als die schweren Metalltüren, die den Eingang zum Osloer Polizeigebäude beschützten, sich brüsk hinter ihnen schlossen, packte sie für einen Moment seinen Arm. Er blieb stehen.
»Eins solltest du wissen. Und zwar: Du kannst dich darüber freuen, daß ich wütend auf dich werden kann.«
Dann ging sie weiter. Er kapierte kein Wort, aber er glaubte ihr nur zu gern.
Alle Kinder waren ins Heim zurückgekehrt, und zwei Knirpse von acht oder neun, die einander ähnelten wie ein Ei dem anderen, öffneten die Tür und starrten den riesigen Mann mit dem Schnurrbart entsetzt an.
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»Hallo, Jungs, ich bin Billy T. Ich bin von der Polizei. Sind denn auch Erwachsene hier?«
Die beiden Jungen schienen sich ein wenig zu beruhigen und zogen sich tuschelnd zurück. Billy T. und Hanne Wilhelmsen folgten ihnen. Bei ihrem ersten Besuch waren sie von der Stille überrascht gewesen. Das schienen die Kinder jetzt unbedingt ausgleichen zu wollen.
Ein fast erwachsener Junge saß mitten im Zimmer und bastelte an einem Fahrrad herum. Neben ihm saß ein Hänfling und machte ein ganz glückliches Gesicht, wenn er ein Werkzeug halten durfte. Der große Junge sprach mit dem kleinen mit leiser freundlicher Stimme, die von dem Geschrei eines
Vierzehnjährigen, der triumphierend einen BH schwenkte und von einem wütenden Mädchen gejagt wurde, übertönt zu werden drohte.
»Anita glaubt, sie hat Titten!«
»Her damit, Glenn! Komm schon!«
Die beiden Achtjährigen sprangen um ihn herum, dann stieg einer auf einen riesigen Arbeitstisch, fuchtelte mit den Armen und heulte: »Glenn, Glenn! Her damit!«
Glenn war so groß, daß die zwei Jahre ältere Anita das peinliche Kleidungsstück, das sie so verzweifelt zu erobern versuchte, nicht einmal dann hätte greifen können, wenn er stehengeblieben wäre. Sie stand jetzt auf Zehenspitzen, er wedelte weiter mit dem BH herum.
»Jeanette, hilf mir doch!« jammerte Anita.
»Hör auf mit dem Scheiß, Glenn.« Mehr Hilfe hatte ein molliges Mädchen, das völlig ungerührt am Tisch saß und zeichnete, nicht zu bieten. »Roy-Morgan! Nicht auf meine Zeichnung treten!«
Sie versetzte ihm eins mit der Faust, und der Junge heulte vor Schmerz auf und brach in Tränen aus.
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»Hergott, Kinder! Glenn, laß das jetzt. Gib Anita ihren BH!
Sofort! Und du!«
Der Achtjährige, der eben noch auf einem Bein auf dem Tisch herumgehüpft war und sich das Schienbein gerieben hatte, stand wieder auf dem Boden, noch ehe Maren Kalsvik ein weiteres Wort sagen konnte.
Nun entdeckte sie die beiden Fremden bei der Tür.
»Ach, Entschuldigung«, sagte sie verdutzt. »Ich wußte nicht, daß jemand hier ist.«
»Daß jemand hier ist?« Billy T. grinste so breit, daß seine Zähne durch den kräftigen Schnurrbart leuchteten. »Sie haben doch wirklich die Bude voll, gute Frau!«
Die beiden Jungen waren noch immer in die Arbeit am Fahrrad vertieft.
»Ich sag es dir nicht zum erstenmal, Raymond!« mahnte Maren mit einer resignierten Handbewegung. »Das mußt du im Keller machen. Das hier ist keine Werkstatt.«
»Da ist es so kalt!«
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