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Das einzige Kind

Das einzige Kind

Titel: Das einzige Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Holt
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hier, abgesehen von einigen Broschüren in einem dunklen Regal, keinerlei Lesestoff zu finden. Hanne konnte nicht sehen, worüber die Broschüren Auskunft gaben.
    Die Frau setzte sich und wies auf einen Sessel, der aus den sechziger Jahren stammen mußte und aus rotem genoppten Kunstleder mit aufgeleimten ovalen Teakplatten auf den Armlehnen bestand. Hanne Wilhelmsen setzte sich.
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    »Möchten Sie einen Kaffee?«
    Frau Håkonsens Stimme klang tiefer als erwartet, und ein angenehmer, singender Tonfall wies auf irgendeinen abgeschliffenen Akzent hin. Da ein Ja die Frau gezwungen hätte, aufzustehen und eine Tasse zu holen, lehnte Hanne dankend ab. Als sie im ansonsten ausdruckslosen Gesicht ihrer Gastgeberin allerdings einen Hauch von Erschöpfung zu sehen glaubte, warf sie ihren Entschluß wieder um.
    »Vielleicht wäre ein Täßchen doch nicht so schlecht.«
    Trotz ihrer Formen bewegte Frau Håkonsen sich leicht und fast graziös. Sie ging wie eine Katze, die Seehundspantoffeln glitten auf dem Weg in die Küche lautlos über das Linoleum.
    Gleich darauf kam sie mit einem großen Emailletablett zurück.
    Darauf standen zwei Kaffeetassen, eine Schale mit Keksen und eine Thermoskanne. Sie schenkte ein und schob die Kekse zu Hanne hinüber.
    »Bitte, greifen Sie zu«, sagte sie und trank einen Schluck Kaffee.
    »Sie möchten sicher wissen, was mich hergeführt hat«, sagte Hanne, weil ihr kein besserer Gesprächsbeginn einfiel.
    Frau Håkonsen schwieg, sie starrte Hanne nur an.
    »Ich wollte mit Ihnen über Ihren Sohn sprechen. Über Olav.«
    Das Gesicht blieb weiterhin unbewegt.
    »Wir wissen jetzt immerhin, daß ihm nichts Schlimmes passiert ist«, sagte Hanne mit optimistischer Stimme. »Er hat sich aller Wahrscheinlichkeit nach in einem Wohnhaus in Grefsen aufgehalten. Und da hatte er ein Dach über dem Kopf und genug zu essen.«
    »Ja, das habe ich gehört«, sagte die Frau endlich. »Ich bin heute schon angerufen worden.«
    »Haben Sie etwas von ihm gehört?«
    »Nein.«
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    »Haben Sie irgendeine Vorstellung, wo er stecken kann? Hat er Verwandtschaft – Großeltern zum Beispiel?«
    »Nein. Doch. Aber zu denen würde er nicht gehen.«
    Das klang nicht gerade verheißungsvoll. Hanne trank einen Schluck Kaffee. Er schmeckte gut und war kochendheiß. Die Alarmglocken hatten sich ein wenig beruhigt, aber sie begriff immer noch nicht, warum sie hergekommen war. Sie stellte die Tasse ab. Etwas Kaffee war auf die Untertasse gekleckert, und Hanne hielt Ausschau nach einer Serviette. Ihre Gastgeberin verzog keine Miene.
    »Das muß hart gewesen sein. Daß Sie mit Olav allein waren, meine ich. Sein Vater …«
    »Er ist tot.«
    Die Frau sagte das ohne Bitterkeit, ohne Trauer in ihrem immergleichen singenden Tonfall. Neutral und wohlklingend, wie eine Radiosprecherin.
    »Ich habe selbst keine Kinder, ich kann also nicht ermessen, wie anstrengend das ist«, sagte Hanne und überlegte, ob sie hier wohl rauchen dürfe. Sie konnte nirgendwo einen Aschenbecher entdecken und fragte schließlich danach. Die Frau lächelte, zum erstenmal, allerdings ohne dabei ihre Zähne sehen zu lassen.
    Wieder stand sie auf und brachte dann einen tellergroßen Aschenbecher.
    »Ich habe eigentlich schon vor vielen Jahren aufgehört«, sagte sie. »Aber vielleicht kann ich eine von Ihnen haben?«
    Hanne beugte sich vor und gab Frau Håkonsen Feuer. Die berührte ihre Hand, und Hanne war überrascht, wie weich ihre Haut war. Weich und trocken und warm. Die Frau machte den ersten Zug wie eine alte Kettenraucherin.
    »Nein, ich wußte auch nicht, wie anstrengend es ist«, sagte sie langsam, während ihr der Rauch aus Mund und Nase quoll.
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    »Aber was Olav angeht, er hat MCD, es ist also nicht meine Schuld, daß er so eigen ist.«
    »Ach«, sagte Hanne in der Hoffnung, mehr zu erfahren.
    »Ich habe schon früh um Hilfe gebeten. Schon auf der Wochenstation war mir klar, daß er anders war als die anderen.
    Aber sie wollten mir nicht glauben. Und als sie dann endlich
    …« Jetzt kam Leben in ihr flaches, ausdrucksloses Gesicht. »Als ich sie endlich davon überzeugen konnte, daß etwas nicht stimmte, wollten sie ihn mir wegnehmen. Da hatte ich mich seit fast elf Jahren mit ihm abgemüht. Ich wollte ihn doch nicht in irgendein Heim geben. Ich wollte nur Hilfe. Es gibt Medikamente. Ritalin. Ich habe um Entlastung gebeten.
    Vielleicht auch um eine Familie, die er ab und zu besuchen könnte.«
    Hanne war nicht sicher, aber die tiefen Löcher, in

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