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Das einzige Kind

Das einzige Kind

Titel: Das einzige Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Holt
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hatten seine Depressionen noch verstärkt. Er machte seine Arbeit, trank jeden Samstag und Mittwoch in der Kneipe an der Ecke ein paar Bier und hatte feststellen müssen, daß seine Frau bei der Scheidung auch den gemeinsamen Freundeskreis übernommen hatte.
    Seine Hände zitterten. Die Papiere, die vor ihm lagen, raschelten bei jeder Berührung. Er griff zum Feuerzeug und führte die vibrierende Flamme an die Ecke der ersten Seite, die er mit ausgestrecktem Arm über das Spülbecken hielt. Das 121
    Papier loderte rascher auf, als er erwartet hatte. Er verbrannte sich die Finger und stieß eine verbissene Verwünschung aus, ehe er die Hand unter das fließende kalte Wasser hielt. Bald bildeten die Papiere nur noch eine Masse aus Wasser und Asche.
    Es half nichts, das Fenster zu öffnen. Es war kalt, aber er schwitzte noch immer.

    Hanne Wilhelmsen wußte nicht so recht, wohin sie eigentlich unterwegs war. Auf einem gelben Klebezettel an ihrem Steuerrad stand eine Adresse. Birgitte Håkonsens Adresse. Die Adresse von Olavs Mutter. Aber Hanne Wilhelmsen fuhr in die entgegengesetzte Richtung. Zuerst.
    Dann geriet sie in die Verkehrsfalle vor dem Postgirohaus.
    Nach drei Runden und sich steigerndem Hupkonzert von genervten Verkehrsteilnehmern entschied dann das Auto für sie.
    Fünfundzwanzig Minuten später hatte sie eine von Oslos ältesten Satellitenstädten erreicht: ein Denkmal verfehlter Wohnungsbaupolitik, das ihr Gänsehaut über den Rücken laufen ließ. Graue niedrige Blocks, die willkürlich im Gelände verstreut worden zu sein schienen, verwitterte Wohnsilos mit traurigen kleinen Gardinen, die die Häuser aussehen ließen, als hätten sie die Augen geschlossen. Hier und da waren vor langer Zeit ein paar Klettergerüste aufgestellt worden, um deren Wartung sich aber niemand mehr gekümmert hatte. Alle für Tagger in den Flegeljahren erreichbaren Flächen waren zugesprüht, unleserliche fette Buchstaben eines kryptischen Codes, den nur Leute unter zwanzig verstehen konnten.
    Mülltonnen, die wenigen grünen, die die Gemeinde
    allergnädigst vor langer Zeit einmal spendiert hatte, standen schräg, und aus ihren aufgerissenen Rachen hingen triefende Tüten mit Hundekot. Ein grauer, trüber Nebel hing über dem Viertel.
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    In der Mitte lag das Einkaufszentrum. Ein großer Legoklotz, der vielleicht irgendwann einmal weiß gewesen war, jetzt aber mit seiner grauen Umgebung verschmolz. Er war nach dem Prinzip »so viel Bodenfläche wie möglich für so wenig Geld wie möglich« angelegt worden. Direkt in dem Klotz konnte man sich nach einem Streit mit dem Jugendamt beim Sozialamt Geld holen und dieses in einem verräucherten, verdreckten Café im Erdgeschoß wieder ausgeben. Und da saßen wohl alle Bewohner des Viertels, auf der Straße war niemand zu sehen.
    Die Hauptkommissarin stellte den Wagen ab und nahm den gelben Zettel vom Lenkrad. Sie überzeugte sich zweimal davon, daß sie das Auto abgeschlossen hatte. Dann überquerte sie den Parkplatz und erreichte einen schmalen Fußweg. Der Fußweg war mit dem bekannten Piktogramm von Erwachsenem und Kind versehen, das allerdings unter den Graffitis kaum noch zu sehen war. Das Schild stand schief und hatte Eselsohren. Der Weg war asphaltiert und lag voller Kieselsteine.
    14 b, erster Stock.
    Hanne Wilhelmsens Kopt war ein schallendes Inferno.
    Sämtliche Alarmglocken läuteten; was sie hier tat, widersprach allen Regeln. Um den Lärm zu dämpfen, versuchte sie sich zu erinnern, ob sie je etwas Ähnliches gemacht hatte. Hatte sie jemals eine Zeugin zu einem Gespräch außerhalb des Polizeigebäudes aufgesucht?
    Nein.
    Und daß sie allein war, machte die Sache nicht besser.
    Einen Moment lang spielte sie mit dem Gedanken, sich nicht auszuweisen. Einen Privatbesuch abzustatten, von Frau zu Frau.
    Idiotisch. Sie kam schließlich von der Polizei.
    Die Haustür hatte durch ein kleines Dach aus Kunststoff mit einer kleinen Regenrinne geschützt werden sollen. Das hatte nicht viel gebracht. Die Tür war abgenutzt und unlackiert und mit den ewigen Initialen in Rot und Schwarz übersät. Die 123
    Klingeln waren auf der rechten Seite der Tür angebracht, aber niemand hatte sich die Mühe gemacht, Namensschildchen unter das Glas zu schieben. Einige Namen standen auf Demotape, andere waren auf Klebeband aus Krepp gekritzelt; nicht einmal die Ränder waren gerade geschnitten. Einige Klingeln wiesen überhaupt keinen Namen auf.
    B. Håkonsen hatte sich immerhin Mühe gegeben.

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