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Das einzige Kind

Das einzige Kind

Titel: Das einzige Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Holt
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nicht, was sie von ihm halten sollte. Seine riesige Gestalt war erschreckend und anziehend zugleich. Die Proportionen waren so ausgeglichen, daß sie seine beängstigende Größe zu mildern schienen. Ohne seinen Schmuck – ein Petruskreuz im Ohr, eine lange Goldkette um den Hals, einen soliden Armreifen um das linke Handgelenk – und in SS-Uniform hätte er Goebbels’
    Propagandaideen aus den dreißiger Jahren entsprungen sein können: gerade, wohlgeformte Nase, der schmale und doch sinnliche Mund, die intensiven blauen Augen. Er war lieb. Aber vor allem war er unbegreiflich loyal, und er verfügte über einen Instinkt, der vermutlich nicht einmal von Hannes eigenem übertroffen wurde.
    »Willst du hier herumprotzen oder mir etwas Wesentliches mitteilen?«
    »Wesentliches«, sagte er laut. »Es ist ja wohl wesentlich, wie ein Mann aussieht.«
    »Würde ich nicht annehmen, wenn ich mir dich so ansehe«, sagte sie und ließ die Hände umeinander kreisen zum Zeichen, daß er loslegen solle.
    »Unser Knabe hat offenbar einige Tage in Grefsen verbracht«, sagte Billy T. und setzte sich auf ihre Schreibtischkante. »Olav, meine ich. Der Entlaufene.«
    »Was? Habt ihr ihn gefunden?«
    »Nein. Aber eine Familie, die in Österreich im Urlaub war, hat bei ihrer Rückkehr eine etwas unliebsame Überraschung erlebt.
    119
    Jemand hatte von ihrem Tellerchen gegessen, gewissermaßen.
    Ihr halber Vorrat an Konservendosen war verschwunden, sämtliches Klopapier verbraucht, von anderthalb Küchenwänden war die Tapete abgerissen worden. Ansonsten war das Haus unberührt.«
    Hanne drückte ihre Kippe so fest aus, daß die Asche hochwirbelte.
    »In Grefsen? Das ist doch mehr als zehn Kilometer vom Kinderheim entfernt.«
    »Zwölf. Um ganz genau zu sein, sechzehn Kilometer. Und den ganzen Weg ist er auf seinen fetten Beinen gewandert, falls es wirklich stimmt, daß er kein Geld hatte. Aber ein Taxifahrer hätte uns inzwischen sicher verständigt, dafür ist die Suchmeldung zu oft wiederholt worden. Das schlimmste ist, daß er in die falsche Richtung gelaufen ist, wenn er nach Hause wollte.«
    Hanne fing den schwachen Duft von Rasierwasser auf, nur einen Hauch, der an ihrer Nase vorbeischwebte. Ob er das für seinen Kopf verwendete?
    »Also«, endete Billy T. und erhob sich. »Auf jeden Fall hat er eine neue Etappe begonnen, und seine Mutter hat angeblich kein Wort von ihm gehört. Aber es klingt doch wirklich so, als sei er der Einbrecher gewesen; im Moment werden die
    Fingerabdrücke überprüft. Wir können seine Abdrücke ja mit Leichtigkeit im Kinderheim heraussortieren, ein bißchen Schwein haben wir eben doch.«
    Er reckte sich und stemmte die Handflächen gegen die Decke.
    Im nächsten Augenblick ließ er die Arme sinken, und Hanne sah zwei schwache Abdrücke auf der grauweißen Fläche.
    Als er gegangen war, starrte sie diese Abdrücke mit einem Gefühl von Wohlbehagen an, das sie sich absolut nicht erklären konnte.

    120
    Terje Welby schwitzte. Stickig und wie ein Gefängnis kam ihm die kleine Zweizimmerwohnung vor. in die er ein Jahr zuvor eingezogen war, nach einer Scheidung, die ihn zwei Kinder, ein Reihenhaus und zweitausendfünfhundert Kronen pro Monat gekostet hatte. Er hatte auf das falsche Pferd gesetzt. Eine junge fesche Sommervertretung im Heim hatte sein Herz geradezu im Sturm erobert. Sie war erst neunzehn und sah finnisch aus. Auf jeden Fall so, wie er sich eine Finnin vorstellte. Sie hieß Eva, lachte dauernd und hatte das Gröbste und das Beste an ihm herausgefordert. Seine Verwunderung darüber, daß sie sich so leicht hatte verführen lassen, war allzu schnell einem übertriebenen Glauben an seine Unbesiegbarkeit gewichen. Sie hatte ihm nichts versprochen, aber er war davon ausgegangen, daß sie nun zusammenbleiben würden. Sechs hektische und phantastische Monate später, als er gerade zu Hause ausziehen wollte, wurde er von einem einundzwanzigjährigen Knaben mit Pickeln und breiten Schultern ausgestochen. Mit eingekniffenem Schwanz hatte er bei seiner Frau, die so alt war wie er, gut Wetter machen wollen. Aber die hatte nach diesen sechs Monaten die Katastrophe verwunden und war zu einem zufriedenen Glauben an ein Dasein ohne diesen Lustmolch gelangt, der sie so entsetzlich verletzt hatte. Er sah seine Söhne jedes zweite Wochenende, aber sie schienen darauf zusehends weniger Wert zu legen und beklagten sich darüber, daß sie im selben Zimmer schlafen mußten wie ihr Vater.
    Die finanziellen Probleme

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