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Das einzige Kind

Das einzige Kind

Titel: Das einzige Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Holt
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denen die Augen saßen, schienen sich mit Wasser zu füllen. Die Frau kniff ihre Augen energisch zusammen.
    »Aber das interessiert Sie sicher nicht«, sagte sie leise.
    »O doch. Ich versuche, mir ein Bild von Ihrem Jungen zu machen. Ich habe ihn noch nie gesehen. Nur auf einem Foto. Er sieht Ihnen ähnlich.«
    »Ja, er hat wirklich in jeder Hinsicht Pech gehabt.«
    Frau Håkonsen drückte ihre Kippe auf eine Weise aus. die zeigte, daß sie wirklich wieder auf den Geschmack gekommen war. Hanne bot ihr noch eine Zigarette an, und sie schien schon annehmen zu wollen, dann schüttelte sie aber doch den Kopf und hob abwehrend die Hand.
    »Äußerlich sieht er mir ähnlich, aber innerlich ist er ganz anders. Er kommt auf die unglaublichsten Ideen. Das liegt irgendwie daran, wie er sieht. So, als ob er … Er sieht Gutes da, wo andere Böses sehen, und Böses, wo andere Gutes entdecken.
    Wenn jemand versucht, lieb zu ihm zu sein, hält er denjenigen für gemein. Wenn er versucht, höflich und umgänglich zu sein, 129
    fürchten sich die anderen Kinder. Und er sieht ziemlich erschreckend aus. Es kommt mir so vor, als wäre er … genau das Gegenteil von allen anderen. Ein Zerrbild von Kind gewissermaßen.«
    Die Frau zog die Beine an und strich sich mit einer unerwartet femininen Geste die Haare aus der Stirn.
    »Wenn alle Kinder sich auf Weihnachten freuen, graust er sich, weil das Fest nur ein paar Tage dauert. Im Sommer, wenn alle Kinder baden wollen, sitzt er im Haus und ißt und sagt, er sei zu fett, um nach draußen zu gehen. Wo ein normales Kind weinen und traurig sein würde, lächelt er und will sich nicht trösten lassen. Kennen Sie die Geschichte von der
    Schneekönigin?«
    Hanne schüttelte den Kopf.
    »Von Andersen. Darin geht es um einen Spiegel, der alles verzerrt. Der Spiegel geht in Stücke, und alle, denen ein Splitter ins Auge fliegt, sehen alles nur noch schief und falsch. Und wer einen ins Herz bekommt, wird eiskalt.«
    Sie beugte sich vor und schien mit dem Gedanken zu spielen, sich das mit ihrem Rauchverzicht noch einmal anders zu überlegen. Ehe Hanne das begriffen hatte, sagte Frau Håkonsen:
    »Olav hat ein gutes Herz. Er will wirklich nur lieb sein. Aber er hat einen Splitter vom Zauberspiegel im Auge.«
    Hauptkommissarin Hanne Wilhelmsen wußte nicht, was sie tun sollte. Sie wurde rot vor Scham, aber sie versteckte sich hinter dem Dampf des heißen Kaffees. Unbewußt rieb sie sich das rechte Auge.
    »Wir alle haben einen Splitter im Auge, der uns daran hindert, richtig zu sehen. Sie auch.«
    Jetzt lächelte Frau Håkonsen wirklich. Ihre Zähne waren unregelmäßig, aber weiß und gepflegt.
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    »Sie haben mich für dumm gehalten, was? Für einen
    Sozialfall, der sein Kind ans Jugendamt verliert. Der keine Arbeit hat, keine Familie und kein einziges Buch im Regal.«
    »Nein, um Himmels willen«, log Hanne.
    »Doch, das haben Sie geglaubt«, beharrte die Frau. »Und in vielerlei Hinsicht bin ich das auch. Ich war eine Idiotin, daß ich seinen Vater geheiratet habe. Ich war schwach und dumm, daß ich nicht …«
    Jetzt strömten Tränen aus den kleinen Brunnen in ihrem Gesicht. Sie wischte sich mit einem molligen, glatten Handrücken die Wangen. Dann riß sie sich zusammen und ging in ihre Ausgangsposition zurück. Ihre Füße glitten wieder auf den Boden, ihr Gesicht wurde wieder flach und tot.
    »Was wollen Sie eigentlich von mir?«
    »Um ganz ehrlich zu sein, ich weiß es nicht so recht. Dieser Mord macht uns großes Kopfzerbrechen, und ich habe das Gefühl, daß wir etwas mehr über Olav wissen müßten.«
    »Er hat es nicht getan.«
    Jetzt war ihre Stimme nicht mehr wohlklingend. Sie war um eine halbe Oktave gestiegen und klang fast schrill.
    Hanne hob abwehrend die Hände.
    »Nein, nein, das glauben wir auch nicht. Aber er kann etwas gesehen haben. Oder gehört. Wir würden wirklich schrecklich gern mit ihm sprechen. Aber er wird ja sicher bald auftauchen.«
    »Ich weiß, daß er es nicht war. Und er hat auch nichts gehört oder gesehen. Lassen Sie die Finger von meinem Jungen! Das Jugendamt reicht mir wirklich.«
    Ihre Augen kamen zum Vorschein. Vielleicht war der Druck dahinter so groß, daß sie fast aus dem Kopf quollen. Oder vielleicht riß sie sie einfach nur so weit auf, wie das überhaupt möglich war. Sie waren seltsamerweise blau.
    »Frau Håkonsen –«, setzte Hanne an.
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    »Ach, kommen Sie mir doch nicht so«, fiel die Frau ihr ins Wort. »Sie haben keine Ahnung von Olav.

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