Das einzige Kind
wie die junge Kassiererin. Die Bande quoll wie ein vielköpfiger Troll aus dem Laden, und vier erwachsene Menschen standen betreten da und mochten einander nicht ins Gesicht schauen, weil sie keinen Finger gerührt hatten, um das Ungeheuer aufzuhalten.
Aber Cathrine konnte der Kassiererin immerhin beim Aufräumen helfen. Zögernd hockte sie sich hin und klaubte Süßigkeiten auf. Zwischen die Bonbons waren Abfälle und winterlicher Schmutz geraten, sie konnten sie nur noch wegwerfen. Die Kassiererin hielt ihr dankbar einen großen Müllsack hin und flüsterte: »Die kommen oft her. Sie machen 244
immer einen Höllenlärm, aber gestohlen haben sie bisher noch nie.«
»Herrgott, sie versucht auch noch, sie zu entschuldigen«, murmelte Cathrine und erhob sich. »Sie sollten diese Leute wirklich anzeigen.«
»Darum kümmert sich der Chef. Er wird bald hier sein.«
Die Kassiererin schien sich vor dem Chef noch mehr zu fürchten als vor den Jugendlichen, die den Laden verwüstet hatten. Cathrine erbot sich, zu warten und dem Chef zu erzählen, was sie beobachtet hatte.
»Nein, nein, um Himmels willen«, wehrte die Kassiererin ab.
»Das würde alles nur noch schlimmer machen.«
Sie brauchten zehn Minuten zum Aufräumen. Der Müllsack war zu einem Viertel mit unbrauchbaren Süßigkeiten gefüllt.
»Wenn Sie in der Schule Bescheid sagen, dann kriegen diese Kinder ganz schönen Ärger«, sagte Cathrine in einem erfolglosen Versuch, die Kassiererin, die jetzt wieder hinter ihrer Kasse saß, aufzumuntern. »Die Katze bedeutet, daß sie auf die Kathedralschule gehen. Ich kann doch …«
»Nein, nein«, sagte die Kassiererin. »Vergessen Sie’s einfach.«
Cathrine schüttelte den Kopf, bezahlte ihre Einkäufe und ging.
Sie hatte die Rübe gekauft, obwohl die sich weich und wäßrig anfühlte. Sie war fast sicher, daß sie noch Möhren im Kühlschrank hatte.
Und dann fiel es ihr plötzlich ein. Was ihr so wichtig vorgekommen war, als Christian die Möglichkeit erwähnt hatte, Maren könne Agnes umgebracht haben. Große kalte
Regentropfen schlugen ihr ins Gesicht, als sie stehenblieb und sich fragte, ob sie die Polizei informieren müßte. Sie stellte ihre Plastiktüte auf den Boden und fuhr sich durch ihr kaltes, nasses Gesicht.
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Es hatte sicher nichts zu bedeuten. Denn bestimmt hatte doch Terje Agnes ermordet, auch wenn es verwirrend war, daß die Polizei das gesamte Personal noch einmal verhört hatte. Blöd, daß ihr das nicht schon gestern eingefallen war, als sie ihre zweite Aussage gemacht hatte. Dann hätte sie es ganz einfach erzählen können, und die Polizei hätte selbst entscheiden müssen, ob es wichtig war. Wenn sie jetzt dort anrief, um es zu erzählen, dann würde sie Maren damit in den Rücken fallen. Es würde doch bedeuten, daß sie einen Verdacht hegte. Und das war nun wirklich nicht der Fall. Kein bißchen. Vielleicht hatte sie es ja deshalb vergessen.
Sie hob ihre Tüte wieder auf und ging weiter. Die Rübe schlug ihr bei jedem zweiten Schritt gegen das Schienbein.
Sie mußte sich das alles noch einmal überlegen.
Er fror nicht mehr. Das war seltsam, seine Haut fühlte sich nämlich wie sonst an, wenn er fror, wie betäubt, fremd, Gänsehaut eben. Noch seltsamer war, daß er keinen Hunger hatte. Er hatte den ganzen Tag noch nichts gegessen, und die Kuchenstücke vom Vortag hatte er längst erbrochen. Statt des normalen Hungergefühls spürte er nur eine leise Übelkeit, längst nicht so stark wie in der vergangenen Nacht.
Sein Kopf quälte ihn am meisten. Er dröhnte und hämmerte, und hinter seiner einen Schläfe schien jemand mit einem Schraubenzieher am Werk zu sein. Ab und zu faßte er sich ans Ohr, denn es tat so weh, als säße dort nur noch ein großes Loch.
Außerdem hatte er Durst. Er hatte einen ganz entsetzlichen Durst. Jedesmal wenn er an einem Kiosk oder einer Tankstelle vorbeikam, spielte er mit dem Gedanken, sich eine Flasche Limo zu kaufen. Aber sicher war inzwischen die halbe Welt hinter ihm her. Überall standen Streifenwagen, er hatte noch nie so viele Streifenwagen gesehen wie an diesem Tag. Das hielt ihn ziemlich auf, und es strengte ihn nur noch mehr an, daß er sich 246
immer wieder verstecken mußte. Sie hatten ihre Sirenen nicht eingeschaltet, deshalb mußte er die ganze Zeit auf der Hut sein.
Einmal blieb ein Wagen ganz plötzlich stehen, höchstens hundert Meter von ihm entfernt. Ein Mann stieg aus, hielt sich die Hand an die Stirn und schaute in Olavs
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