Das einzige Kind
leibt und lebt, einen Job, den sie sich durch Urkundenfälschung und Lügen beschafft hat.«
Jetzt stieß Tone-Marit einen Pfiff aus. Einen leisen, gedehnten Pfiff.
»Maren Kalsvik hat die Sozialschule der Diakonie besucht«, erzählte Hanne und verschränkte die Hände hinter dem Kopf.
»Das schon. Aber sie ist beim letzten Examen durchgefallen. Im Frühjahr 1990. Das ist nicht weiter schlimm, man versucht es im Herbst eben noch einmal. Das Problem ist nur, daß sie wieder durchgefallen ist. Und die blödeste Entscheidung ihres Lebens getroffen hat. Statt das letzte Schuljahr zu wiederholen und damit zwei neue Chancen zu bekommen, hat sie sich zum Nachexamen gemeldet. Und ist wieder durchgerasselt.«
»Spinnt die?« murmelte Billy T. »Die macht so einen intelligenten Eindruck.«
»Theorie und Praxis sind eben sehr weit voneinander entfernt.
Daß sie immer wieder durchgefallen ist, kann tausend Ursachen haben. Entscheidend ist jetzt, daß man nach dem
Nachholexamen keine weiteren Möglichkeiten mehr hat. Im ganzen Leben nicht mehr. Auf der Sozialschule der Diakonie hat niemals eine Maren Kalsvik Examen gemacht. Nicht 1990, nicht 1991. Und auch in keinem anderen Jahr. Sie muß aber bei ihrer Bewerbung Unterlagen gezeigt haben. Und die waren demnach gefälscht.«
»O verdammt«, sagte Billy T.
»Genau das hat sie sicher auch gedacht. Als sie durchgefallen ist, meine ich.«
»Aber wissen wir, daß Agnes Maren gesagt hat, daß sie durchschaut war?« fragte Tone-Marit.
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»Nein, das wissen wir nicht.« Hanne schüttelte den Kopf.
»Aber wenn sie es ihr gesagt hat, dann wußte Maren, daß sie vor Ruinen stand. Und das ist tausendmal schlimmer, als wegen des Diebstahls von dreißigtausend Kronen in den Knast zu wandern.
Es ist schlimmer, als obdachlos und pleite zu sein. Und außerdem ist das noch nicht alles …«
Eine halbe Stunde später war die Cola getrunken, und die Temperatur im Büro der Hauptkommissarin rückte bedrohlich auf dreißig Grad zu. Erik war aufgeregt und verschwitzt, Billy T. zuckersüß, und Tone-Marit dachte bei sich ein weiteres Mal, daß Hanne Wilhelmsen die beste Ermittlerin war, die sie je erlebt hatte.
Es konnte keine Zweifel mehr geben. Der Liebhaber war ein Gauner und würde seine verdiente Strafe erhalten. Der Ehemann war ein armer Trottel, der sich nicht getraut hatte, eine Wahrheit einzugestehen, die für ihn nicht einmal irgendeine Gefahr bedeutet hatte.
Maren Kalsvik war eine Mörderin.
Aber wie sie die Sache auch drehten und wendeten, sie konnten es einfach nicht beweisen.
Cathrine Ruge stand am Gemüsetresen und fragte sich, ob sie noch Möhren hatte oder ob sie noch eine Packung kaufen sollte.
Sie sahen jetzt, mitten im Winter, nicht gerade verlockend aus.
Vielleicht wären gelbe Rüben doch vorzuziehen. Sie hielt gerade eine graugelbe, ovale Rübe in der Hand, als eine Bande von lärmenden Jugendlichen in roten Steppjacken, auf die sie hinten weiße Filzkatzen aufgenäht hatten, ins Geschäft stürmte.
Himmel, die Abiturfeiern fangen auch jedes Jahr früher an, dachte sie. Zu ihrer Zeit hatten sie noch bis Mitte Mai gebüffelt und höchstens mal samstags einen Bierabend eingelegt. Sie selbst hatte damals nur eine Studentenmütze gehabt, und die 243
hatte sie auch nur einmal aufgesetzt, am Nationalfeiertag nämlich.
Die Jugendlichen nahmen alle Limonadenflaschen aus einem Kühlschrank und versorgten sich mit unglaublichen Mengen an Schokolade. Sie füllten große Tüten mit Süßigkeiten aus den verschiedenen Gläsern, und ein Junge mit strähnigen Haaren, der mehr Krach machte als alle anderen zusammen, wollte bei den beiden Mädchen aus der Clique dermaßen Eindruck schinden, daß er vor Überschwang den Süßigkeitenständer umwarf. Schokolade, Drops und Gummibärchen fielen zu Boden, und plötzlich senkte sich Totenstille über den Laden.
Dann brüllten die Jugendlichen vor Lachen. Die junge Kassiererin machte ein verzweifeltes Gesicht, sie war vermutlich jünger als die Abiturienten und sicher noch nie so nahe an eine Studentenmütze herangekommen wie in diesem Moment, sie traute sich nicht einmal, die anderen
zurechtzuweisen. Sie schloß die Kasse ab und holte Kehrblech und Handfeger. Ehe sie zurückkam, rafften die Jugendlichen alles, was sie an Cola und Schokolade tragen konnten, zusammen und stürzten davon.
Cathrine spielte einen Moment mit dem Gedanken, sie aufzuhalten, aber das laute, wüste Auftreten der Clique hatte sie fast ebenso erschreckt
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