Das einzige Kind
bewegten sich im Takt ihres Atems, aus und ein, aus und ein. Sie schloß die Augen.
Und wünschte im Grunde, sie nie wieder öffnen zu müssen.
»Da! Da ist er wieder!«
Der junge Polizist klebte am Seitenfenster und versuchte, in die richtige Richtung zu zeigen, es wurde aber eher ein unbestimmtes Klopfen gegen die Fensterscheibe.
»Da ist er, da, im Garten!«
»Ruf den nächsten Streifenwagen und sag ihnen, sie sollen ihm auf der anderen Seite der Wohnsiedlung den Weg versperren. Und sag ihnen, sie sollen diese verdammte Sirene ausschalten.«
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Einige Sekunden nachdem der Polizeianwärter diesen Befehl ausgeführt hatte, hörten sie, wie in der Ferne die Sirene verstummte.
»Wenn wir den Knaben jetzt nicht fangen, dann laß ich mich pensionieren«, sagte der andere verbissen und fuhr einen vollständig unnötigen, verbotenen und höchst effektiven Schlenker, um den Wagen zu wenden.
Er hatte es geschafft. Wäre er nicht so müde gewesen, er wäre stolz auf sich gewesen. Maren würde auf jeden Fall stolz auf ihn sein. Zweimal hatte er es gewagt, nach dem Weg zu fragen. An einigen Stellen hatte er Gebäude erkannt. Jetzt war er da. Aber hier in der Gegend wimmelte es nur so von Polizei. Es waren immer mehr geworden, und am Ende war er durch Gärten und Sträucher gekrochen, um von der Straße her nicht gesehen zu werden.
Er hatte es geschafft. Aber wie sollte er ungesehen mit Maren sprechen?
Zögernd zog er sich unter die kahlen, überhängenden Zweige eines Baums zurück. Es war noch immer so hell, daß er auch von weitem gesehen werden konnte, und deshalb preßte er sich so dicht wie möglich an den Stamm. Ihn trennten nur noch eine Straße, ein Tor und ein Gartenweg von der Haustür des Heims Frühlingssonne.
Und etwa fünfzig Meter.
Endlich öffnete Maren Kalsvik die Augen wieder. Langsam, zögernd. Sie hielt sich die Hände vors Gesicht. Ihre Haut war kalt, aber sie fror nicht. Sie lehnte sich an die Fensterbank. Die Kante bohrte sich in ihre Hüfte, aber dieser Schmerz war in gewisser Hinsicht angenehm, er machte ihr klar, daß sie noch existierte. Ihr Kopf war leer und gleichzeitig vollgestopft mit Chaos. Ihr wurde schwindlig, und voller Erstaunen registrierte 253
sie, daß sie sehr lange den Atem angehalten hatte. Keuchend schnappte sie nach Luft.
Es wurde langsam dunkel. Die Schatten waren nicht mehr so scharf, hier und dort verschmolzen sie fast mit dem schwarzen Boden. Irgendwer hatte das Tor offenstehen lassen. Das sollte doch immer geschlossen sein.
Unter den Bäumen auf der anderen Straßenseite bewegte sich etwas. Die Umrisse einer Gestalt begannen sich gerade abzuzeichnen, da versperrte ihr ein Lieferwagen mit dem Emblem einer Tischlerei für einen Moment die Sicht. Als der Wagen vorbeigefahren war, kniff sie die Augen zusammen, um festzustellen, ob sie richtig gesehen hatte.
Obwohl die Gestalt – denn es handelte sich einwandfrei um einen Menschen – sich noch dichter an den Baum preßte, dessen Zweige über den Bürgersteig hingen, war sie deutlich zu sehen.
Sie war nicht besonders groß, wirkte aber breit und kräftig.
»Himmel, das ist ja Olav«, sagte sie laut.
Sie rannte zur Tür und wäre vor der Treppe fast über herumliegende Legosteine gefallen. Aber sie konnte das Gleichgewicht bewahren, und ohne Schuhe anzuziehen, stürmte sie die Treppe hinunter und hinaus auf den Kiesweg.
»Olav!« rief sie und streckte die Arme aus. »Olav!«
Als sie sah, daß er aus dem Schatten trat, fiel ihr auch das Auto auf. Sie sah nicht sofort, daß es sich um einen Streifenwagen handelte, sie sah nur, daß es viel zu schnell fuhr.
Der Junge hatte den Bürgersteig überquert und den ersten Fuß auf die Fahrbahn gesetzt. Sie hatte erst den halben Gartenweg hinter sich.
»Halt!« schrie sie und blieb selbst stehen in der Hoffnung, den Jungen damit zu beeinflussen.
Aber er ging weiter.
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Jetzt sah sie sein Gesicht, nur fünfzehn Meter entfernt. Er lächelte, ein ganz anderes Lächeln, als sie bisher bei ihm gesehen hatte. Er sah glücklich aus.
Als er zwei Meter der Fahrbahn überquert hatte, schwankte er und hob eine Hand, vermutlich zum Gruß.
Der Mann fuhr viel zu schnell. Viel zu schnell für die Geschwindigkeitsbegrenzung von dreißig Stundenkilometern und viel zu schnell, um noch bremsen zu können, als plötzlich ein Zwölfjähriger über die Straße lief.
Die Bremsen kreischten auf. Maren Kalsvik schrie. Eine ältere Dame, die vier Häuser weiter wohnte und gerade im
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