Das einzige Kind
einmal herausfordernd. Aber er war stark, und er wich nicht einen Fingerbreit zurück.
Billy T. war wie erstarrt. Er wagte nicht, etwas anderes zu bewegen als seine Augen, und er hatte den Eindruck, daß der Sekundenzeiger der Wanduhr aus purem Entsetzen
stehengeblieben war.
»Touché«, sagte Hanne mit leisem Lächeln. »Und voll überholt, muß ich wohl zugeben.«
Billy T. atmete hörbar aus und grinste breit. »Die Jugend von heute, Hanne. Hat keinen Respekt mehr.«
»Du hältst jedenfalls die Klappe.«
Ihr Zeigefinger bohrte sich in seine Brust.
»Von jetzt an wird geleitet. Schaff Erik her. Und zwar sofort!«
Der Haftbefehl gegen den Liebhaber war bald ausgestellt. Der Jurist, der auf ihren Fall angesetzt war, war zwar ziemlich träge und unerfahren und hatte an dem Mord an Agnes Vestavik 239
bisher kaum Interesse gezeigt, aber er zuckte mit den Schultern und versorgte zwei angehende Wachtmeister mit den nötigen Papieren; dann instruierte Hanne Wilhelmsen die beiden mit leiser Stimme und schickte sie los. Sie wußten inzwischen, daß der Liebhaber nicht verschwunden war, sondern zu Hause saß und soff.
Hanne ging zurück in ihr Büro, wo Billy T. vier Cola neueren Datums herbeigeschafft hatte. Sie setzte sich auf ihren Platz und trank eine halbe Flasche. Danach ließ sie ihren Blick von Tone-Marit zu Erik und dann wieder zurück zu der jungen Kollegin wandern.
»Du hattest schon recht. Das war wirklich keine
Höchstleistung von mir. Tut mir leid.«
Billy T. und Erik waren verlegen und winkten ab. Tone-Marit sah sie nur an.
»Es tut mir wirklich leid.«
Tone-Marit starrte sie noch immer an, aber in ihren schmalen Augen lag ein leises Lächeln auf der Lauer. Hanne lächelte auch und sagte: »Jetzt müssen wir aus diesem Wirrwarr von Mördern wieder herausfinden. Und von Mörderinnen.«
Sie hatte die grünen Umschläge in ihrem Ordner zu vier Stapeln sortiert. Die lagen in Reih und Glied vor ihr, und nun legte sie auf den einen eine schmale, flache Hand. Ihr Trauring funkelte zu den dreien auf der anderen Seite des Schreibtischs hinüber, und aus einem alten Reflex heraus wollte sie die Hand zurückziehen. Aber etwas hinderte sie daran.
»Das hier ist Maren Kalsvik«, sagte sie und klopfte auf den einen Stapel, dann kam der nächste an die Reihe.
»Und das ist der Liebhaber, der seine Bekannte vor ihrem Tod noch ausgeplündert hat. Hier …« Die Hand klatschte auf den dritten Stapel. »Hier haben wir den Ehemann, der die Polizei anlügt, wenn es um das Erbe der toten Gattin geht.«
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Der vierte grüne Umschlag wurde an die Tischkante
geschoben.
»Das ist der Rest. Olav Håkonsen, seine Mutter, Terje Welby und …«
»Warum hast du eigentlich Terje Welby abgeschrieben?« fiel Tone-Marit ihr ins Wort. »Er ist doch trotz allem noch aktuell, oder was?«
»Das wäre zu einfach, Tone-Marit. Das wäre viel zu einfach und simpel. Und mir gefällt nicht, daß er keinen Abschiedsbrief hinterlassen hat. Die Leute von der Technik sind inzwischen ganz sicher, daß es Selbstmord war. Falls sie es überhaupt je bezweifelt haben. Terje Welby hat sich mit seinem eigenen Tapetenmesser umgebracht. Aus Reue und Depression, vermutlich. Weil er ein Schurke und Bandit war, der seinen Arbeitgeber bestohlen hat. Aber wir haben sonst keinen Grund zu der Annahme, er könnte Agnes umgebracht haben. Alle Erfahrung lehrt, daß er dann einen Brief hinterlassen hätte.
Einen Brief, in dem er entweder seine Unschuld beteuert und um Verzeihung für seine sonstigen Vergehen bittet, oder einen, in dem er alles zugibt. Hier handelt es sich um einen in tiefster Verzweiflung begangenen Selbstmord. Eine Flucht und eine Buße. Und beides bliebe unvollendet, wenn er sich nicht mitgeteilt hätte. Wenn er nicht gesagt hätte, was er getan hat, und was nicht.«
»Aber er hat nun mal keinen Brief geschrieben«, sagte Billy T.
und rülpste laut und ausgiebig.
»Doch, ich glaube, er hat«, widersprach Hanne leise. »Ich bin ziemlich sicher, daß er einen solchen Brief geschrieben hat.
Aber den hat jemand verschwinden lassen.«
Erik kippte sich Kaffee aufs Hemd. Tone-Marit kippte das Kinn nach unten. Billy T. stieß einen Pfiff aus.
»Maren Kalsvik«, sagte er, fast wie zu sich selbst.
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»Aber es kann doch jeder gewesen sein«, protestierte Erik.
»Warum gerade sie?«
»Weil wir glauben sollen, der Mörder sei tot. Weil für sie der Himmel einstürzen würde, wenn sie ihren Job aufgeben müßte.
Einen Job, für den sie
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