Das Elbmonster (German Edition)
entsprechend reifer Altersklugheit.
Gewiss, vereinzelt wähnten sich auch Heranwachsende mit einer auffallend scharfsinnigen Veranlagung ausgestattet, die sie speziell für Wahrsagungen nutzen durften, besonders bei Naturvölkern. So ist zum Beispiel überliefert, dass ein jugendlicher Schamane, namens Göktschu-Teb-Tengri, der trotz seines pubertären Alters als weithin anerkannter Zauberpriester bereits hohes Ansehen genoss, die Schicksalsfügung von Temugdin Jessug-hei, dem späteren Dschingis Khan (1162 bis 1227), schon ziemlich genau zu prophezeien vermochte, als dieser selbst auch noch ein Knabe war.
Und so kam es dann auch: Temugdin wurde nicht nur ein beispiellos erfolgreicher Krieger, sondern auch der bedeutendste Eroberer aller Zeiten, denn er schuf das größte Reich, welches jemals auf dem Erdenrund bestand. Es erstreckte sich von der Sibirischen Taiga bis an den Himalaja, vom Mittelländischen Meer bis an den Stillen Ozean. Sein unübertrefflicher Siegeszug kann gewiss nicht damit begründet werden, dass er während seiner Geburt einen Klumpen geronnenes Blut in der kleinen Babyfaust hielt, der einem roten Edelstein glich, was die Anwesenden zu höchst seltsamen Reaktionen veranlasste, darunter später auch den erwähnten Schamanen zu seiner bemerkenswerten Prophetie.
Die Mongolen verehren Dschingis Khan übrigens heute noch als ihren am meisten geachteten Nationalhelden, obwohl er sein riesiges Imperium mit einer unglaublichen Brutalität schuf und verteidigte. Andererseits ist es schon beeindruckend und für manche Interessenten sogar regelrecht bewunderungswürdig, wie es möglich war, dass eine aufs Reiten erpichte Nomadengemeinschaft von höchstens einer Million Seelen unter seiner Führung unzähligen Völkern das pure Fürchten lehrte, mögen jene Krieger auch noch so kampfesmutig gewesen sein.
Genau diese Geschichte schoss mir urplötzlich durch den Kopf, als mich Abel mit seiner makabren Weissagung völlig aus der Fassung brachte, denn ich war mit besagter Legende ausgiebig vertraut, hatte doch mein einstiger Lehrer sie oft genug zum Besten gegeben. Dabei wäre unser „gescheites Hutzelmännchen“ zuweilen wohl auch gerne selbst auf einem Pferd sitzend und mit Pfeil und Bogen bewaffnet aufgetreten, um seine Lieblingsstory den Schülern noch anschaulicher zu demonstrieren. Sein ausgeprägtes Faible für die einzigartigen „Heldentaten“ des Mongolenfürsten war offenkundig. Bei alledem vergaß er niemals, ebenso bildhaft zu erwähnen, dass dem besagten Schamanen schließlich auf Geheiß des Khans das Rückgrat gebrochen wurde, um ihn für immer auszuschalten, weil der Geistliche nach Ansicht des weltlichen Herrschers über die Jahre hinweg doch zu großen Einfluss auf irdische Verhältnisse gewann, zumal er sich während seiner Ratschläge unablässig auf die Götter berief. So vollzog sich die allmähliche Wandlung der einst tiefen Freundschaft zwischen den beiden Jugendlichen hin zur bitteren Feindschaft im Mannesalter, die letztlich mit dem Tode eines Rivalen endete.
Kein Wunder also, wenn sich die eben ins Feld geführte Tragödie unversehens in mein Bewusstsein drängte, nachdem mich Abel durch seine entsetzliche Verlautbarung für eine Weile regelrecht sprachlos machte.
Nebenbei bemerkt: Äußerst blutrünstige Praktiken seien in jener Sphäre anno dazumal durchaus als Normalität empfunden worden. So wäre es keine Seltenheit gewesen, dass man den schon besiegten Feinden noch zusätzlich das Haupt abschlug oder aufsässige Untertanen bei lebendigem Leibe in brodelnden Kesseln kochen ließ. Menschenleben habe keinen überdurchschnittlichen Wert gehabt; es sei vertilgt worden, wie man es für gewöhnlich mit Ratten auch macht, sobald ihre Existenz als schädlich beurteilt wird.
Sie, meine verehrten Leser, können sich bestimmt gut vorstellen, dass namentlich Kinder dergestalt emotional überschäumend dargestellten Erzählungen besonders aufmerksam verfolgen und gleichermaßen anhaltend in fester Erinnerung behalten. Mir ist es jedenfalls so ergangen.
Indem mich Abel während unserer Zugfahrt nach Deutschland durch seine irrsinnig beängstigenden Worte fast regungslos erstarren ließ, schlug mich just diese Geschichte in ihren Bann, denn sie schwirrte sogleich in meinen Hirnzellen rasend umher, um von mir schon bald vollends Besitz zu ergreifen. Danach gab es kein Entrinnen, nicht die geringste Chance blieb mir, mental davon loszukommen. Fortan war ich gefangen im
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