Das Elfenportal
wartete.
Holly Blue griff nach ihrem kleinen geflochtenen Nähkasten. Was jetzt kam, konnte sie überhaupt nicht leiden, aber es musste sein. Sie nahm eine Silbernadel heraus, leckte sich nervös die Lippen, dann stach sie sich in die Fingerkuppe. Sie wischte die Nadel ab und legte sie in den Nähkasten zurück. Die Spinne zitterte erwartungsvoll.
Ohne auf den Schmerz zu achten drückte Holly Blue die Fingerkuppe zusammen, bis sich ein hellroter Tropfen Blut gesammelt hatte und neben der Spinne auf die Tischplatte fiel. Das Tier stürzte sich sofort darauf. Im Handumdrehen war die Tischplatte wieder sauber. Blue lehnte sich zurück und wartete, entspannte ganz bewusst ihren schlanken Körper. Minuten der Ungeduld verstrichen, bevor sie – endlich! – das vertraute Rumoren an den Rändern ihres Bewusstseins verspürte. Ihr Blut war das Bindeglied. Ihr Blut, ihr Bewusstsein. Ein Tropfen mochte kein großes Opfer sein, aber ohne ihn war die Spinne nicht nützlicher als ein gewöhnliches Krabbeltier.
Blue schloss die Augen und öffnete ihren Geist. Sofort spürte sie die fremdartige Präsenz der psychotronischen Spinne, lebendig, wachsam und merkwürdig vertraut. Blue streckte einen mentalen Fühler aus und streichelte sie sanft. Die Spinne rieb sich daran und schnurrte wie ein Kätzchen. Sie war bereit, Blue aufzunehmen. In ihrem Geist berührte Blue die Spinne, hielt sie fest, spürte, wie sie miteinander verschmolzen.
Es war, als öffne sich ein Fensterladen und Licht flute herein. Blues Wahrnehmung dehnte sich plötzlich aus. Sie hielt den Atem an und unterdrückte die Aufgeregtheit, als sie sich nicht nur ihres Zimmer bewusst wurde, sondern des gesamten oberen Stockwerks des Palastes, des Palastes, der Insel und dann –
Stopp!, befahl sie sich. Diese Augenblicke waren die gefährlichsten. Wenn ihre Wahrnehmung sich immer weiter ausdehnte, würde sie innerhalb weniger Minuten verrückt werden. Doch obwohl sie das wusste, wollte sie nicht aufhören. Das Gefühl, das sich mit dieser Ausdehnung einstellte, ähnelte keinem, das Blue je erlebt hatte – es war eine Hochstimmung, die an Ekstase grenzte. Genau das war der Grund, warum nicht einmal der Kaiserliche Geheimdienst den Einsatz psychotronischer Spinnen vorsah. Zu viele gute Ermittler waren buchstäblich als Hohlköpfe geendet, die glücklich vor sich hinsummten, während ihr Bewusstsein die Weiten des Universums erforschte.
Stopp! Sie wusste, dass sie es konnte. Ihre Neugierde, ihr Drang, Bescheid zu wissen, waren immer schon stärker gewesen als die Freude am Genießen. Sie musste einen Brennpunkt festlegen, der ihre Aufmerksamkeit vom großen Ganzen wegzog, zurückholte in den Palast, zurück in ihr Zimmer. Merkwürdig flackernd sah sie das Zimmer mit den Augen der Spinne, verzerrte Flächen und Winkel, die mit riesigen Möbeln und weiten Flächen bedruckten Gewebes angefüllt waren.
Sie lockerte ihren geistigen Griff ein wenig, und ihr Bewusstsein dehnte sich wieder aus, aber nicht allzu weit diesmal. Nun fühlte es sich an, als sei sie ihrem Körper entflohen und rase in einem winddurchtosten Tunnel auf ihr Ziel zu.
Einen Moment später stand sie in den Privatgemächern ihres Vaters Apatura Iris, des Purpurkaisers.
Zwei Männer befanden sich in dem von Bücherregalen gesäumten Zimmer: ihr Vater und Torhüter Tithonus. Sie waren beide nicht in Amtstracht und hielten Weinbrandschwenker in der Hand, aber ihren Gesichtern war anzusehen, dass es sich nicht um ein zwangloses Treffen handelte.
»– in Wut geraten. Wir beide«, sagte ihr Vater gerade. »Aber wenigstens hat er mir zugehört. Ich glaube, das habe ich dir zu verdanken.«
Tithonus zuckte die Schultern. »Er ist in Sicherheit. Das ist das Einzige, was zählt.«
»In der Tat.« Der Kaiser nickte. »Aber unglücklicherweise löst das unsere Probleme nicht.«
»Nein, Herr, aber es vereinfacht sie ein wenig«, sagte Tithonus gewandt. Er stellte sein Glas ab, drehte sich um und sah Holly Blue direkt an.
Sein Blick wirkte so real, dass Blue das Gefühl hatte, sich wegducken und irgendwo verstecken zu müssen. Aber sosehr sie selbst auch den Eindruck hatte, wirklich anwesend zu sein – ihre leibliche Hülle befand sich natürlich noch in ihrem Schlafgemach.
»Irgendwelche neuen Erkenntnisse über die Truppenbewegungen?«, fragte ihr Vater.
Blue war alarmiert. Truppenbewegungen? Sie hatte bisher nichts von Truppenbewegungen gehört. Wer bewegte da Truppen? Ihr Vater? Das hätte sie
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