Das Elfenportal
Jetzt gleich.«
Henry sank das Herz in die Hosen. Vor lauter Aufregung war es ihm beinahe gelungen, zu vergessen, was zu Hause los war.
Zehn
I hre durchlauchtigste Hoheit Prinzessin Holly Blue hatte sofort den Eindruck, dass etwas nicht stimmte, als sie aus ihrem Schlafgemach trat und einen Priester den Gang hinunterrennen sah. Priester rannten nie, nicht einmal Technikpriester. Sie schritten würdevoll dahin, und sosehr man auch wollte, dass sie sich beeilten, man musste verdammt noch mal warten. Aber der hier rannte, dass die Schöße seiner Amtstracht flatterten und haarige Waden entblößten. Er schlitterte um die Ecke, und Sekunden später waren seine Schritte auf der Haupttreppe zu hören.
Blue trat in ihr Gemach zurück und ging zum Fenster. Unten kam der Priester aus einer Tür geschossen, jagte mitten durch eine Gruppe entsetzter Mägde hindurch und verschwand auf der anderen Seite des Hofes unter einem Torbogen. Er wollte zur Kapelle oder zur Küche oder vielleicht sogar zum Haupttor des Palastes. Aber warum rannte er so?
Blue biss sich auf die Unterlippe. Zurzeit passierte zu vieles, von dem sie nichts wusste. Sie hatte Tage gebraucht, um Pyrgus aufzuspüren, und nur der Himmel wusste, was passiert wäre, wenn ihn jemand anders zuerst gefunden hätte. Nicht, dass sie sich allein die Schuld daran gab – Pyrgus war manchmal unglaublich blöd, und seine Marotte, als Bürgerlicher zu leben, war so ziemlich das Blödeste, was ihm einfallen konnte. Ein Bürgerlicher. Sie schauderte. Es bedurfte mehrerer Leben in Selbstlosigkeit, um als Prinz auf die Welt zu kommen, und Pyrgus war drauf und dran, das einfach hinzuwerfen. Und er war kein einfacher Prinz. Er war Kronprinz. Er sollte besser das Regieren lernen anstatt sich unters gemeine Volk zu mischen. Zum Glück würde sie ihm mit Rat und Tat beiseite stehen können, wenn er erst einmal Kaiser war, aber trotzdem…
Doch hier ging es nicht nur um Pyrgus. Zwischen ihrem Vater und den Nachtelfen war irgendetwas im Gange. Nicht nur die jüngsten Gespräche. Ihre Nase sagte ihr, dass es da noch etwas anderes gab. Es herrschte ein zu großes Kommen und Gehen. Es wurde zu viel in dunklen Ecken getuschelt. Es waren zu viele unbekannte Gesichter im Palast. Hinzu kam noch, dass ihr Vater nicht mehr mit ihr redete. Na ja, das war vielleicht etwas übertrieben. Aber sobald sie über Politik sprechen wollte, wechselte er das Thema. Wenn sie die Nachtelfen auch nur erwähnte, ging er schon in Deckung. Selbst als sie ihm erzählt hatte, dass Lord Hairstreak hinter Pyrgus her war, hatte ihr Vater eher peinlich berührt als dankbar gewirkt. Aber wenigstens hatte er etwas unternommen – das war ja immerhin schon etwas.
Blue ging langsam vom Fenster weg und setzte sich an ihren Frisiertisch. Eine ganze Weile starrte sie das verzierte Schmuckkästchen an. Das hatte sie ihrem Vater noch nie angetan. Aber sie war ja auch noch nie dazu gezwungen gewesen. Sie streckte die Hand aus und berührte den Verschluss. Vielleicht ging es ein bisschen zu weit. Aber ging es andererseits nicht auch ein bisschen weit, dass ihr Vater ihr offenbar kein Vertrauen mehr schenkte? Was sollte ein Mädchen da machen? Sie ließ den Verschluss aufschnappen, hielt den Deckel aber noch zu.
Was war denn so schlimm an dem, was sie tat? Wieso sollte man ihr nicht vertrauen können? Sie spionierte doch nicht für die Nächtlinge. Ihr lagen doch Vaters ureigenste Interessen am Herzen. Das war bekannt. Und ihr Vater sollte das eigentlich auch wissen. Außerdem war sie eine Prinzessin des Hauses Iris. Die Dritte in der Thronfolge. Zählte das denn gar nicht? Bedeutete das denn nicht, dass er sie stets in alles einzuweihen hatte?
Blue stand rasch auf, ging durchs Zimmer und schloss die Tür ab. Prinzessin des Hauses Iris hin oder her – was sie vorhatte, war illegal, und ihr drohten ernsthafte Schwierigkeiten, wenn ihr Vater je davon erfuhr. Glücklicherweise war das nicht allzu wahrscheinlich.
Sie ging zum Frisiertisch zurück und öffnete die Schatulle. Im nächsten Moment kam die psychotronische Spinne herausgekrabbelt. Ihre großen Augen schimmerten im Licht. Ihr Rücken schimmerte in allen Farben des Regenbogens, wie eine Öllache, die das Sonnenlicht reflektiert. Einen Moment lang krabbelte sie ziellos auf dem Frisiertisch herum, besah sich die Bürste und den Kamm, umkreiste die Parfümflaschen. Dann bewegte sie sich entschlossen auf Holly Blue zu, blieb an der Tischkante stehen und
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