Das Elfenportal
eine Lesbe sein konnte. Sie war viel zu feminin, viel zu schön.
»Du bist doch Henry, oder?«, fragte sie.
Henry nickte dümmlich. Er versuchte immer noch, sich etwas einfallen zu lassen, das er sagen konnte. Er sah Anaïs an. Sie war jünger als seine Mutter. Sie war eigentlich gar nicht so viel älter als er.
Und was sagte er jetzt zu ihr? Lassen Sie die Finger von meiner Mutter? Er merkte, dass sein Gesicht schon wieder leicht zu prickeln begann, und schickte ein Stoßgebet zum Himmel, ihn bloß nicht rot werden zu lassen. Um seine Verlegenheit zu überspielen, holte er tief und rasselnd Luft und sagte: »Wie geht es Ihnen?«
Anaïs blickte sich nervös um, sah erst ihn an, dann zur Straße und zu dem Taxifahrer, der auf sein Geld wartete. Dann hielt sie inne und sagte: »Gut, Henry.« Sie sah beinahe verzweifelt aus. »Wie geht es dir ?«
»Ganz gut«, sagte Henry. Er blinzelte.
Sie sah schrecklich, schrecklich hübsch aus. Sie trug ein perfekt sitzendes Kostüm mit hauchdünnen schwarzen Strumpfhosen und hochhackige Schuhe. Sie hatte große braune Augen und langes dunkles Haar. Sie trug Make-up, aber nettes Make-up, nicht aufgedonnert oder so. Sie roch gut, nach irgendeinem Parfüm. Ihm gefiel die Form ihrer Nase. Ihm gefiel die Form ihres Mundes. Er fragte sich, wie sie wohl mit Schmetterlingsflügeln aussehen würde.
Er konnte sich vorstellen, später einmal in eine Frau wie Anaïs verliebt zu sein und sie ins Kino einzuladen. Er konnte sich vorstellen, dass sein Vater sich in sie verliebte, obwohl sein Vater älter als seine Mutter war, was bedeutete, dass er um einiges älter als Anaïs war. Andererseits bevorzugten ältere Männer öfter jüngere Frauen und jüngere Frauen manchmal ältere Männer. Bloß dass es so herum gar nicht gewesen war.
»Hast du ein Verhältnis mit Anaïs, Papa?«
»Ich hab kein Verhältnis mit Anaïs«, hatte sein Vater gesagt. »Aber deine Mutter.«
Pyrgus Malvae musste etwa in Henrys Alter sein. Es war schwer, sich ihn als einen ganz normalen Jungen vorzustellen, der in seiner Welt ganz normale Jungssachen machte, aber so musste es sein. Nur dass er durch ein Portal gekommen war und nun kein ganz normaler Junge mehr war. Er war ein Malvenwürfelfalter mit dem winzigen Körper eines Menschen. Eine Katze konnte ihn töten, und er wusste nicht, wie er wieder nach Hause kommen sollte. Wie half man so jemandem? Wie half man jemandem, dessen Frau sich in jemand anders verliebt hatte? Wie half man jemandem, dessen Mutter auf Frauen stand?
Henrys Augen liefen über und er fing an zu weinen.
Zwölf
» W ir haben gute Neuigkeiten«, sagte Grayling.
»Und schlechte Neuigkeiten«, warf Glanville ein.
Brimstone starrte die beiden finster an. Er hätte sie am liebsten auf dem Fußboden festgenagelt und ihnen die Füße abgesägt, aber er wusste aus bitterer Erfahrung, dass sie sich durch nichts vom Reden abbringen ließen, wenn sie erst einmal angefangen hatten. Das war es, was sie vor Gericht so unverwüstlich machte. Unschuldige gestanden Mordtaten, wenn sie ihrem unbarmherzigen Doppelspiel ausgesetzt wurden. Aber immerhin: Sie waren auf seiner Seite.
»Die gute Nachricht ist, es handelt sich um eine Strafsache«, sagte Grayling und lächelte.
»Was zweifelsfrei feststeht«, sagte Glanville.
»Der Junge mag unser Kronprinz sein«, fuhr Grayling fort, »aber in den Augen des Gesetzes ist er ein ganz normaler Verbrecher.«
»Ein unbefugter Eindringling.«
»Ein Katzeneinbrecher.«
»Oder, präzise ausgedrückt, ein Einbrecher und Katzendieb.«
»Das Gesetz missbilligt das«, sagte Grayling. »Tatsächlich wird das Gesetz dies nicht dulden. Wir haben die Richterin gesprochen – «
»Haben wir in der Tat.«
»Und sie hat beschlossen, dass der Junge festzunehmen und in Untersuchungshaft zu halten ist…«
»… durch uns beziehungsweise durch unsere Detektive, sofern Sie uns in Ihrer Funktion als Direktor von Chalkhill & Brimstone, der geschädigten Partei, eine entsprechende Vollmacht erteilen.«
»Sie hat einen Haftbefehl ergehen lassen. Ich habe ihn hier.« Glanville zog eine Urkunde aus seiner Aktentasche und wedelte damit in der Luft herum.
»Wie lange dürfen wir ihn festhalten?«, fragte Brimstone.
»Ach, sehr lange«, sagte Grayling. »Ohne Gerichtsverhandlung sechs Monate. Dann, wenn wir ihn vor Gericht bringen, können wir um eine weitere sechsmonatige Vertagung zur Vorbereitung der Anklageerhebung ersuchen. Alles in allem ein Jahr. Das schien uns
Weitere Kostenlose Bücher