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Das Elixier der Unsterblichkeit

Das Elixier der Unsterblichkeit

Titel: Das Elixier der Unsterblichkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabi Gleichmann
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Nationaltheaters, die neuen Schüler, wenn er die Türen der Theaterschule öffnete. Und er fügte hinzu: »Es darf nur einen einzigen Gedanken in euren Köpfen geben: Ich will ein anderer sein. Die Rollenfigur, die ich spiele.«
    Es war kein Geheimnis in der Theaterwelt, dass der Herzensbrecher Scharf die weiblichen Neulinge der Bühnenschule bevorzugte und dass er die meisten von ihnen als Geliebte rekrutierte. Deshalb wurden viele Augenbrauen hochgezogen, als schon nach wenigen Wochen deutlich erkennbar war, dass Moricz Spinoza besonders hoch in seiner Gunst stand. Wohl meinten alle, die dem jungen Mann begegnet waren, er sei ungewöhnlich charmant und habe eine bezaubernde Persönlichkeit, und viele lobten seine einzigartige Diktion und verblüffende Bühnenpräsenz. Doch niemand verstand, dass Scharf – der zehn Söhne mit ebenso vielen Frauen hatte, und es war allgemein bekannt, dass all diese Kinder von ihm gleichermaßen vernachlässigt wurden – eine solche Vorliebe für Moricz hegte. Man sprach von einer Art Vater-Sohn-Beziehung.
    Moricz fühlte sich pudelwohl am Theater, wo alles Spiel war, und er verbrachte alle wachen Stunden des Tages im Hause – abgesehen vom Sonnabendvormittag, wo er nach eigener Aussage den Gottesdienst in der Synagoge besuchte.
    Er liebte es, nach den harten Proben des Tages in den Keller hinunterzugehen, sich vor den Spiegel zu stellen und verschiedene Rollen einzustudieren, gekleidet in phantastische Theaterkostüme, die in dem riesigen Lager aufbewahrt wurden. Ein Kostüm war prächtiger als das andere. Die Sorgfalt der Kostümschneider und ihre Handwerkskunst waren über jeden Zweifel erhaben. Alle Materialien waren handverlesen. Alte Webstoffe, schwere Brokate, Seide und Samt, Stoffe, die vor Noblesse und Qualität glänzten. In der Nähstube des Nationaltheaters wurde Haute Couture für die Bühne geschaffen, wie man sie kaum jemals gesehen hatte.
    Eine Laune des Schicksals hatte Scharf eines Tages auf einen Flohmarkt am Rande von Budapest geführt. Er war schon eine Weile herumgeschlendert, als er in einer der Buden zufällig das Kostüm wiedererkannte, das sein ältester Sohn Ervin ein paar Jahre zuvor bei seinem katastrophalen Schauspielerdebüt als Hamlet getragen hatte. Scharf hatte das Kostüm schon vermisst, da er überlegte, ob er das Stück demnächst mit Moricz in der Hauptrolle wiederaufführen sollte. Es war ein figurbetontes Kostüm, bestehend aus einer Jacke und einer Hose aus weichem schwarzem Wildleder. Der Verkäufer, ein zahnloser, magerer Kerl, der nach billigem Rotwein stank, bot auch ein Paar spitze Wildlederschuhe mit enger Schnürung an, die zu dem Kostüm gehörten.
    Scharf rief die Polizei herbei und erklärte in gebrochenem Ungarisch, das Kostüm und die Schuhe seien Eigentum des Nationaltheaters, und der Mann müsse sie gestohlen haben. Der Verkäufer leugnete vehement. Er behauptete, er habe die Kleider und die Schuhe von seinem Onkel geerbt, der vor kurzem in Transsylvanien verstorben sei. Doch da mischte sich ein anderer Verkäufer in das Gespräch ein. Er konnte berichten, dass der Mann, der ein Dieb und Gewohnheitsverbrecher sei, einen jungen Kumpan habe, der jeden Sonnabendvormittag mit zehn, zwölf neuen Kostümen auftauche, eins immer fabelhafter als das andere, und allem Anschein nach gestohlen. Die Polizisten nahmen den mageren Verkäufer mit auf die Polizeistation in der Nähe. Scharf begleitete sie.
    Das Verhör wurde damit eröffnet, dass der grobschlächtige Polizist den Verkäufer mit ein paar kräftigen Schlägen in Bauch und Gesicht einschüchterte. Das machte ihn äußerst kooperativ. Er erzählte, alle Kleider, die er verkaufe, seien Diebesgut aus dem Nationaltheater. Auf die Frage, wie so ein Diebstahl vor sich gehe, antwortete er, das sei die einfachste Sache der Welt. Der Komplize sei Schüler an der Theaterschule und habe die Erlaubnis, sich jeden Abend in dem Keller aufzuhalten, in dem die Kleider aufbewahrt würden. Alle waren der Meinung, er würde verschiedene Rollen einstudieren, doch in Wahrheit wähle er kostbare und leicht verkäufliche Kostüme aus. Dann zöge er sich ein oder zwei unter seine Kleidung, um anschließend in aller Ruhe das Theater zu verlassen.
    »Wie heißt dieser Kumpan?«, fragte die Polizei. Scharf, der bei dem Verhör anwesend war, brauchte nicht auf die Antwort des Verkäufers zu warten. Er kannte sie.
    Moricz’ Karriere als Schauspieler war vielversprechend, aber kurz. Sie endete schon, ehe

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