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Das Elixier der Unsterblichkeit

Das Elixier der Unsterblichkeit

Titel: Das Elixier der Unsterblichkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabi Gleichmann
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– und derjenige, der weiß, hat nicht das Bedürfnis, darüber zu sprechen. Wir wussten, und unser Leben war durchdrungen von der Überzeugung – die wir nicht selbst gewählt, sondern von der vorigen Generation übernommen hatten –, dass es das Ziel unseres Wissens war, die Welt zu verbessern. Indem wir die Vergangenheit auf unseren Schultern trugen, dienten wir der Zukunft.
    Als Chiara ihre beiden Söhne begraben hatte, musste sie noch einmal von vorn beginnen. Nun war es Jakob, dem sie die Familiengeschichte erzählte und der Benjamins Buch erben sollte. Ich kann mir die Gespräche vorstellen, die sich zwischen Großmutter und Enkel entspannen. Sie schärfte Jakob ein, dass er ein unverzichtbares Glied in einer langen geschichtlichen Kette sei, die niemand unterbrechen dürfe. Er müsse sich der Familientradition unterwerfen, die dem Leben der Individuen Ziel und Sinn verleihe. Da Jakob seine Großmutter über alles auf der Welt liebte, erfüllte er seine Verpflichtungen gegenüber der Familientradition bis ins letzte Detail.
    Nach Jakobs Tod landete das Buch bei seinem ältesten Sohn Bernhard. Dieser engagierte Journalist, der früh seine geliebte Ehefrau verloren hatte, kam nie dazu, einen tieferen Kontakt zu seinen drei Kindern aufzubauen. Bernhard war viel zu sehr mit dem Versuch beschäftigt, die Welt zu retten. Noch weniger war er in der Lage, die Familienlegende weiterzutragen, die er in seiner Kindheit gehört hatte, da er sie als Ammenmärchen betrachtete und seine Kinder, was ihre Herkunft betraf, nicht hinters Licht führen wollte.
    Dennoch ist es nicht so überraschend, dass es Moricz gelang, sich eingehende Kenntnisse über die Vergangenheit anzueignen. Nichts erschien ihm natürlicher, als in den Schränken des Vaters zu wühlen, die Schlösser seiner Schubladen mit einem Dietrich zu öffnen, seine Jackentaschen zu durchsuchen, auf der Jagd nach etwas Wertvollem, das sich zu stehlen lohnte. Bernhard wäre vor Erschütterung gestorben, hätte er gewusst, was sein ältester Sohn schon seit frühester Kindheit trieb.
    Eines Tages fand Moricz
Das
Elixier der Unsterblichkeit
in einem Geheimfach im Schreibtisch des Vaters. Er begann, in dem Buch zu blättern, ließ sich jedoch abschrecken von dem erdrückenden Gewicht unbegreiflicher Mysterien, die ihm entgegenschlugen. Dank seines Selbsterhaltungstriebs, der ihn auf untergründige Weise vor einer bevorstehenden Gefahr warnte, legte er das Buch wieder zurück, verschloss das geheime Fach sorgfältig und verließ das Arbeitszimmer. Einige Sekunden später kam der Vater nach Hause, um wichtige Dokumente zu holen, die er auf dem Schreibtisch vergessen hatte.
    Der Gedanke an das Buch ließ Moricz keine Ruhe. Getrieben von einer wachsenden Neugier, kehrte er eine gute Woche später in das Arbeitszimmer zurück und nahm den dicken Lederband heraus. Er schlug das Buch an einer beliebigen Stelle auf und las den Beginn des zweiten Kapitels: »Der erste Spinoza mischte lebensspendende Kräuter, der letzte wird das Erbe der Familie in Rauch aufgehen lassen.«
    Er verstand, dass
Das
Elixier der Unsterblichkeit
neben vielem anderen auch die detaillierte frühe Geschichte der Familie enthielt. Fasziniert entdeckte er, dass Benjamin eine Reihe von Voraussagen über die Zukunft getroffen hatte. Er suchte nach seiner eigenen Lebensgeschichte, denn er ahnte, dass sie über zweihundert Jahre zuvor aufgezeichnet worden war. Doch das einzige, was von seinem eigenen Schicksal handelte, verstand er nicht, denn er las das Buch, bevor die Zeit reif war.
DIE ANALYSE UND DER PUTSCH
    Ferenczi las den kurzen Antwortbrief mit einem Anflug von Enttäuschung. Es erstaunte ihn, dass das wenige, was Freud über Moricz zu sagen hatte, vage formuliert und in so allgemeinen Wendungen ausgedrückt war, dass es sich nicht nur auf alle seine Patienten anwenden ließ, sondern auch auf die meisten Juden in Mitteleuropa.
    Zweitausend Jahre Verfolgung und das Leben in den Ghettos, in denen die Bewegungsfreiheit stark begrenzt war, schrieb der Vater der Psychoanalyse, hätten ein spezifisch jüdisches Verhaltensmuster geschaffen. Dies spiegele sich in der Körpersprache, in dem unaufhaltsamen Willen, es im Leben zu etwas zu bringen, in den intensiven Gesprächen, dem so hohen Aktivitätsniveau und dem Ehrgeiz, der Beste zu sein, um überhaupt überleben zu können. Jedoch auch in der nur mit Mühe beherrschten Ungeduld, der extremen Empfindlichkeit gegenüber jeglicher Art von Stimulanzen, die

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