Das Elixier der Unsterblichkeit
zusammengelebt, doch nun wurde sie wie eine Haushälterin behandelt.
Chiara wusste, dass Salomon sie nie gemocht hatte. Sie war eine Frau, und schon allein das war ausreichend, um sein Misstrauen zu wecken. Zudem hatte sie einen scharfen Verstand und interessierte sich nicht für Geld. Es missfiel ihm auch, dass sie in Sünde mit Amschel gelebt hatte. Doch statt seinen Bruder aufzufordern, Chiara vor Gott und den Menschen zu seiner angetrauten Ehefrau zu machen, beschwerte er sich über den Verfall der Sitten. Über die Unsittlichkeit, zu der er selbst beitrug durch seinen Umgang mit minderjährigen Mädchen im berühmtesten Hurenhaus Wiens, dem Salon Rouge, dachte er nicht weiter nach.
Was Salomon am meisten aufbrachte und zudem seinen Neid wachrief, war Chiaras Einfluss auf Amschel. Er bildete sich ein, sie würde gegen ihn agieren, und erkannte nicht – da sein Bruder viel zu taktvoll war, um ihn darüber aufzuklären –, dass sein Mangel an Klarsicht und strategischem Denkvermögen seine ärgsten Feinde waren und die Ursache dafür, dass er an den wichtigsten Entscheidungen für die Bank nicht beteiligt wurde.
Jetzt fielen Chiara all die Situationen in der Vergangenheit ein, bei denen sie sich über Salomons zweifelhafte Geschäfte gewundert hatte. Auch darüber, dass er den wirtschaftlichen Aspekten immer eine höhere Bedeutung beimaß als den moralischen. Doch dass es ihm so absolut an Bruderliebe fehlte, dass er nicht die mindeste Rücksicht auf Amschels letzten Wunsch nehmen würde, das hatte sich Chiara nicht vorstellen können. Erst jetzt erkannte sie das Ausmaß seiner Niedertracht.
So kam es, dass sie, gezeichnet von Trauer über Amschels Tod, drei Tage später aus dem Haus ausziehen musste, das sie sich mit ihm gemeinsam aufgebaut hatte. Die anderen Hausbewohner, Jakob, seine Frau Eleonora und ihre zwei Kinder, wurden ebenfalls auf die Straße gesetzt.
EIN DENKWÜRDIGES ESSEN
Ich überlasse nun Chiara und Jakob für eine Weile ihrem Schicksal, denn plötzlich fällt mir etwas ein, was uns Großvater erzählt hat.
Ich glaube nicht, dass Großvater Sasha und mich besonders mochte – vielleicht mochte er Kinder im Allgemeinen nicht –, denn er sah fast immer ärgerlich aus, wenn wir uns in seiner Nähe aufhielten. Doch jetzt erinnere ich mich an eines der seltenen Male, da er uns mit seiner Gesellschaft beehrte. Es war nach einer Schulabschlussfeier. Wir hatten die dritte Klasse beendet, mein Zwillingsbruder mit glänzenden Noten, während ich sowohl in Geschichte als auch in Mathematik nicht bestanden hatte. Wir saßen in der Küche und aßen zu Mittag. Großmutter war zur allwissenden Hausmeisterin gegangen, um die letzten Neuigkeiten zu erfahren. Wir waren überrascht, als Großvater in die Küche kam. Wie erwähnt, pflegte er seine Tage in seinem Lieblingswirtshaus mit dem pseudo-witzigen Namen Der eierlegende Hahn zu verbringen, wo er sechsmal in der Woche zu Mittag Ochsenschwanzsuppe aß und mit seinen Freunden Karten spielte. Die Ursache dafür, dass er an diesem Tag von seiner Gewohnheit abwich, haben wir nie erfahren. Doch er nahm sich einen Teller Suppe und setzte sich zu uns.
Schon nach zwei Löffeln stieß Großvater verärgert hervor: »Diese vermaledeite Frau, dass sie nicht mal durch ihr Versehen das Kochen gelernt hat. Immer ist alles angebrannt, die reinste Beleidigung, nur im Gefängnis habe ich noch schlechteres Essen bekommen.«
Dann gab er ein paar Flüche zum Besten, doch da er sich nicht nur mit der angeborenen Eleganz eines Aristokraten kleidete, sondern sich auch möglichst so aufführte, wechselte er dabei ins Deutsche.
Obwohl wir die Worte nicht verstanden, waren wir beschämt und blickten zu Boden. Nach ein paar Sekunden sah Sasha auf und sagte, vielleicht um mich zu ärgern, vielleicht aber auch, um die düstere Stimmung zu durchbrechen: »Großvater, ich habe die besten Noten der Klasse, in allen Fächern. Bist du nicht stolz auf mich?«
Ich sehe noch Großvaters erstaunte Miene vor mir. Man konnte leicht den Eindruck gewinnen, dass er keine Ahnung davon hatte, dass wir zur Schule gingen.
»Jaha, das ist ja gut«, sagte er und schlürfte noch ein paar Löffel Suppe in sich hinein. »Und was willst du mal werden, wenn du groß bist?«
»Kosmonaut«, antwortete Sasha, der zu der Zeit die größte Bewunderung für Juri Gagarin hegte, den russischen Bauernsohn, der kurz zuvor als erster Mensch im Weltraum gewesen war.
»Das klingt ja spannend. Also die Erde
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