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Das Elixier der Unsterblichkeit

Das Elixier der Unsterblichkeit

Titel: Das Elixier der Unsterblichkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabi Gleichmann
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verlassen. Dann hast du vielleicht die Chance, für eine Weile dieser sozialistischen Hölle zu entkommen. Und du, Ari, was willst du werden?«, fragte er und drehte sich zu mir.
    Beschämt darüber, in der Schule nicht genug zu leisten, und voller Angst davor, am Nachmittag meinen Eltern zu begegnen, sagte ich: »Ein anderer. Ich will ein anderer werden.«
    »Genau das hat mein Bruder Moricz auch immer gesagt: Ich will ein anderer sein.«
TÜRKISCHER HONIG
    In einer Ecke von Lipótváros, dem exklusiven fünften Distrikt von Budapest, lag Kohns populäres Delikatessengeschäft, wo das wohlsituierte Bürgertum der Stadt seine Einkäufe tätigte. Moricz ging jeden Tag auf dem Weg zur Schule an dem Geschäft vorbei, und manchmal, wenn er seine Chance genutzt hatte, einen Taler aus der Jacke des Vaters zu stibitzen, ging er hinein und kaufte sich etwas Leckeres. Eines Nachmittags waren weder Kunden noch Verkäufer im Geschäft. Er sah sich verwundert um. Es herrschte eine merkwürdige, fast erschreckende Stille. Er sagte »Guten Tag« ins Leere und hustete laut, um die Aufmerksamkeit der Angestellten zu erregen. Doch offenbar hörte ihn niemand. Moricz spürte, wie der Geruch von Schinken, der zu Hause verpönt war, sich mit dem unverwechselbaren Duft von Schokolade vermischte. Er schlich sich an den Tresen, wo die verschiedenen Honigkuchen und der Türkische Honig in Glasschalen lagen. Erneut sah er in alle Richtungen, um sicherzugehen, dass niemand im Laden war. Das Wasser lief ihm im Munde zusammen, während er die Süßigkeiten betrachtete. Er stellte seinen Schulranzen auf den Boden, hob, so leise wie er konnte, den Deckel der Glasschale mit der linken Hand an und füllte mit der rechten seine Hosentasche mit farbenfrohem Türkischen Honig, dem Inbegriff äußersten Genusses. Im nächsten Moment verschwand er aus dem Geschäft, mit einem unbeschreiblichen Gefühl von Glück und intensiver Freude.
    Die Lust, diese erregende Handlung zu wiederholen – allein im Geschäft zu stehen und eine Handvoll Süßigkeiten in die Hosentasche gleiten zu lassen –, erfasste Moricz so stark, dass er in den nächsten zwei Monaten mehr Zeit vor dem Delikatessengeschäft verbrachte als in der Schule. Konzentriert wartete er auf den rechten Augenblick, wenn niemand im Laden war. Er wusste, dass sein Vorhaben eine unglaubliche Kühnheit verlangte, wenn es nicht in eine Katastrophe münden sollte. Das Tollkühne dieser Handlung erregte ihn, und er fühlte sich unbesiegbar.
    Abends, wenn seine Umgebung davon ausging, dass er in seine Schularbeiten vertieft war, übte er mit großem Eifer die Fertigkeit, die Handschrift des Vaters nachzuahmen. Das war keine leichte Sache, denn der bekannte Journalist hatte eine charakteristische Schreibweise mit äußerst kleinen Buchstaben entwickelt. Nachdem Moricz jedoch fast hundert Blätter vollgekritzelt hatte, konnte er aus der Erinnerung die Handschrift auf das glaubwürdigste nachahmen. So war er in der Lage, einen Stapel phantasievoll formulierter Krankmeldungen vorzulegen, geschrieben und unterzeichnet mit der gefälschten Handschrift des Vaters, ohne dass es in der Schule Misstrauen erweckt hätte.
    Doch eines Tages holte das Pech Moricz ein. Er wollte gerade den Laden mit raschen Schritten und wohlgefüllten Hosentaschen verlassen, da bemerkte er, dass der Besitzer Hermann Kohn in der Tür stand und ihn beobachtete.
    »Du kleiner Dieb«, sagte der Mann streng und zog ihn am Ohr. »Du bist also die kleine Ratte, die unsere Süßigkeiten stiehlt. Ich habe bemerkt, dass in letzter Zeit große Mengen vom türkischen Konfekt verschwunden sind. Wie lange geht das schon so?«
    »Ich bitte inständig um Verzeihung«, antwortete Moricz verlegen. »Ich habe noch nie vorher etwas genommen. Dies ist das erste Mal. Meine Mutter hat mich hergeschickt, um etwas roten Hering zu kaufen, der, wie der Arzt sagt, gut für ihre angeschlagene Gesundheit und ihre schlechten Nerven sein soll. Aber es war kein Verkäufer im Laden, und für einen Augenblick haben mich die vielen Süßigkeiten verführt. Sie verstehen, meine Mutter ist arm, sie kann es sich nicht leisten, Türkischen Honig für mich zu kaufen.«
    Der Ladenbesitzer glaubte ihm nicht. Ein Blick auf die Kleidung des Jungen zeigte ihm, dass er nicht aus einer armen Familie kam.
    »Du lügst«, sagte der Mann und zog ihn wieder am Ohr. »Wie heißt du, und wo wohnst du? Ich werde deinem Vater Bescheid geben, dass du gestohlen hast.«
    »Papa ist tot. Er

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