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Das Elixier der Unsterblichkeit

Das Elixier der Unsterblichkeit

Titel: Das Elixier der Unsterblichkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabi Gleichmann
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sie begonnen hatte. Doch dank seiner Jugend blieb es ihm zumindest erspart, vom Nationaltheater direkt ins Gefängnis zu wandern.
DIE PSYCHOANALYSE
    Einige Jahre zuvor, während der Dreyfus-Affäre in Paris – bei der ein französischer Hauptmann jüdischer Abstammung wegen Hochverrats angeklagt und zu lebenslanger Verbannung verurteilt wurde, obwohl er unschuldig war –, hatte Großvaters Vater, der Journalist Bernhard Spinoza, die Bekanntschaft des italienischen Arztes Cesare Lombroso gemacht, des Begründers der Kriminalanthropologie. Sie waren in Kontakt geblieben und tauschten noch immer mit einiger Regelmäßigkeit Briefe aus. Verzweifelt über das Verhalten seines ältesten Sohnes, wandte Bernhard sich an Lombroso, der eine Professur für Psychiatrie an der Universität in Turin innehatte. Es dauerte nicht lange, bis er einen zwölfseitigen Antwortbrief in Händen hielt. Daraus ging hervor, dass der Italiener, obwohl er Moricz nie persönlich begegnet war, die kriminelle Neigung des jungen Mannes auf biologische Eigenschaften zurückführte. Ursache sei entweder schlechte Ernährung oder eine körperliche Besonderheit, die er durch direktes Erbe ausgebildet habe. Lombroso wies auf die neuesten Erkenntnisse der Wissenschaft hin, die das Resultat seiner eigenen Forschung seien, und behauptete nachdrücklich, bei Moricz müsse es einen engen Zusammenhang zwischen Genie und Geisteskrankheit geben. Was für eine Krankheit das sei, könne er allerdings nicht mit Sicherheit sagen. Er empfahl Signor Spinoza, den Sohn zu einem Psychoanalytiker zu bringen – zu Doktor Sigmund Freud in Wien oder zu seinem Kollegen Sándor Ferenczi in Budapest –, um eine umfassende Untersuchung vorzunehmen.
    Die Arztpraxis lag im zweiten Stock mit Aussicht über die Donau und die schattigen Anhöhen des Stadtteils Buda. Es roch süßlich im Wartezimmer. Das ließ Moricz an das türkische Konfekt denken, das er in Hermann Kohns Delikatessengeschäft gestohlen hatte. Moricz war nur auf Druck des Vaters mit zu dem Psychoanalytiker gekommen, und er hatte schon im vorhinein beschlossen, Sándor Ferenczi kein Vertrauen zu schenken.
    »Bitteschön, die Herren Spinoza, treten Sie ein.«
    Der Arzt war ein kleiner Mann mit dunklem, durchdringendem Blick hinter dicken Brillengläsern. Er sprach schnell, bewegte sich ruckartig und machte einen nervösen Eindruck.
    »Herr Spinoza, ich pflege alles zu lesen, was Sie schreiben, und weiß um den bedeutenden Einsatz, den Sie als Journalist geleistet haben. Sie verteidigen die Gerechtigkeit und stellen sich auf die Seite der Schwachen gegen die Starken in der Gesellschaft. Ich gehe davon aus, dass Sie Ihrem Sohn eine bürgerliche Erziehung haben angedeihen lassen, zu deren zentralen Werten Rechtschaffenheit und Ehrlichkeit gehören. Dass der Junge jedoch, aus einem für Sie unbekannten Grund, von einer unwiderstehlichen Lust getrieben ist, sich in regelmäßigen Abständen auf den Weg des Verbrechens zu begeben. Habe ich die Sache recht verstanden? Das ist doch wohl der Grund Ihres Hierseins?«
    Bernhard war verlegen und wand sich unbehaglich auf seinem Sessel. Moricz saß steif wie ein Stock.
    »Ich bin mit Professor Lombroso in Turin bekannt, der mir empfahl, Sie aufzusuchen und um Hilfe zu bitten«, erklärte Bernhard. »Mein Sohn Moricz ist ein guter Kerl, er ist warmherzig, humorvoll, erfindungsreich, wissbegierig und vielseitig begabt. Doch ist es ihm schon immer schwergefallen, sich an die Wahrheit zu halten. Solange er sich nur aufs Lügen verlegte, bin ich ruhig damit umgegangen und habe gehofft, dass er lernen werde, seine Phantasien im Zaume zu halten, wenn er etwas älter würde. Doch nun hat er sich auch einiger krimineller Handlungen schuldig gemacht, und das macht mir Sorgen. Ich hoffe, Sie werden ihn heilen können.«
    »Herr Spinoza, ich muss ehrlich sein. Ich glaube nicht, dass ich in der Lage bin, Ihren Sohn zu heilen. Doch ich werde versuchen, ihn zu verstehen.«
    Die Behandlung dauerte schon neun Monate, und Ferenczi war frustriert, weil er mit Moricz nicht weiterkam. Viele seiner Patienten litten an merkwürdigen Vorstellungen, doch dieser Fall übertraf alles. Der Arzt hatte noch nie eine derart gespaltene Persönlichkeit gesehen. Der junge Mann besuchte ihn dreimal in der Woche, und es war, als würde stets eine neue Person auf dem Sofa sitzen. Das eine Mal war Moricz still und verschlossen und starrte nur vor sich hin. Andere Male kicherte er ununterbrochen eine halbe Stunde

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