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Das Elixier der Unsterblichkeit

Das Elixier der Unsterblichkeit

Titel: Das Elixier der Unsterblichkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabi Gleichmann
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lang und dankte dann dem Psychoanalytiker dafür, dass er seine volle Aufmerksamkeit genossen habe. Manchmal weinte er, die Stirn auf die Knie gedrückt, und sagte, er vergieße Tränen über seine tote Mutter, über deren Tod er früher nicht habe weinen können.
    Häufig sprang er vor und zurück in Zeit und Raum und servierte eine Kavalkade unzusammenhängender und unglaublicher Geschichten über seine Familie. Sie sei durch Europa gewandert seit der Geburt Portugals. Sein Ahn habe Tote zum Leben erwecken und alte, impotente Männer in virile Stiere verwandeln können. Er behauptete nachdrücklich, einer seiner Vorväter habe über dreihundertfünfzig Jahre lang gelebt, nachdem er sieben Tropfen eines Ewigkeitselixiers getrunken habe. Ein anderer sei ein reicher Maharadscha in Indien gewesen, ohne ein Wort Hindi zu sprechen. Ein dritter habe die Französische Revolution angezettelt und den Kopf auf dem Schafott verloren. Ein vierter habe den elektrischen Strom erfunden und einen Brand verursacht, dem seine sieben Kinder zum Opfer fielen. Eines Tages kam er in die Praxis und verkündete, seine Mutter sei eine blinde Prinzessin gewesen, seine Großmutter die bekannteste Frau der Demimonde von Wien.
    Ferenczi war oft ratlos, wenn er spät am Abend seine Notizen durchlas. Schließlich erkannte er, dass Moricz bewusst versuchte, ihn mit seinen wilden Phantasien zu verwirren. Das war die Art des jungen Mannes, sein wirkliches Ich zu beschützen. Doch welches war sein wirkliches Ich?
    Ferenczi konnte die dunkle Seelentiefe nicht erschließen, aus der Moricz Kraft schöpfte für seine Erzählungen und psychologischen Verwandlungskünste. Er begriff, dass es jenseits seiner Fähigkeiten lag, eine umfassende Diagnose über die Psyche dieses merkwürdigen jungen Mannes zu stellen. Er erwog sogar, sich an Sigmund Freud zu wenden und um Hilfe zu bitten. Vorläufig verwarf er diesen Gedanken allerdings, da er es als beschämende Niederlage empfinden würde, rein fachlich an seine Grenzen gestoßen zu sein.
    Eine Unterbrechung der Patientenbesuche zwischen Weihnachten und Neujahr verschaffte ihm Zeit zu weiterem Nachdenken. Er saß in seinem Schaukelstuhl, und in einem Moment der Klarsicht erkannte er, dass es keine andere Lösung gab, als alle Notizen und Moricz’ Patientenakte in die Berggasse 19 in Wien zu schicken. Denn nur Freud, dem es nie fremd gewesen war, psychoanalytische Beobachtungen bei Menschen vorzunehmen, die er nie getroffen hatte, konnte mit seiner Illusionslosigkeit die Beweggründe des jungen Mannes durchschauen.
EINE HISTORISCHE KETTE
    In letzter Zeit habe ich mir selbst häufig die Frage gestellt, woher Moricz so viel über die Familie Spinoza wissen konnte. Folgendes könnte die Erklärung sein:
    Kurze Zeit bevor Nicolas zur Conciergerie geführt wurde, dachte er an das Schicksal Dantons, und es ließ ihn erschauern und erkennen, dass auch ihm etwas Furchtbares widerfahren würde. Er nahm Chiara das Versprechen ab, die lange Geschichte der Familie Spinoza für ihre beiden kleinen Kinder lebendig zu halten und Benjamins
Elixier der Unsterblichkeit
an einem sicheren Ort zu verwahren, ohne das Buch jemals selbst aufzuschlagen. Eines Tages sollte sie es dann dem älteren Sohn Gerard überlassen.
    Chiara war keine Heilige, und offensichtlich war nicht Gott der Mittelpunkt ihres Lebens. Sie trank gern Wein und liebte es, Klatsch und Tratsch auszutauschen. Das Verhältnis, in dem sie lebte – diese Ménage-à-trois –, widersprach zweifelsohne den Moralvorstellungen ihrer Zeit. Auch gab es keinen Spinoza in ihrer Nähe, auf den sie sich hätte stützen können. Aber sie hielt, was sie Nicolas versprochen hatte. Vielleicht aus Loyalität. Vielleicht weil sie die Besonderheit unserer Familie erfasst hatte.
    Diese Familie entstand durch ein wundersames Mysterium, fast schon vor der Geburt aller europäischen Staaten, und wir haben eine wichtige Rolle in der Geschichte gespielt. Nie aber hat jemand sich hochmütig gefühlt ob des geheimen Wissens – völlig unbegreiflich für die Menschen der modernen Zeit –, das wir mit uns getragen haben durch verschiedene Epochen und Länder. Keiner von uns hat jemals davon gesprochen. Nicht weil Moses prophetische Stimme uns von einer staubigen Landstraße in León zugerufen hatte, dass wir den Zorn des Herrn und grausame Strafe fürchten müssten und unser Geschlecht von der Erde ausgerottet würde, wenn wir auch nur ein Wort zu jemandem sagten. Sondern weil wir wussten

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