Das Elixier der Unsterblichkeit
lebenden und toten, sorgsam registriert auf 1 300 000 Mikrofilmen. Sie wurden erworben von der Genealogischen Gesellschaft innerhalb der Kirche Jesu Christi der Heiligen der letzten Tage, die zu den Mormonen zählt und ihren Sitz in Salt Lake City hat.
Die Namen in diesem enormen Archiv sind in der ganzen Welt durch Abschrift aus allen erdenklichen Registern zusammengetragen worden. Ziel dieses gigantischen Unternehmens ist es, die gesamte Menschheit – Lebende wie Tote – auf Mikrofilm zu registrieren.
Die Genealogie stellt einen wesentlichen Aspekt in der Religion der Mormonen dar. Dank dieses Archivs kann jeder Mormone in seine Vergangenheit eintreten, seinen Stammbaum zurückverfolgen und im Nachhinein seine Ahnen der kirchlichen Taufe teilhaftig werden lassen.«
Der Artikel machte mich neugierig. Ich schrieb an die Mormonenkirche, bat um Informationen über das Archiv und fügte eine Liste mit den Namen meiner engsten Familienmitglieder bei. An einem sonnigen Tag Anfang April, fast drei Monate nachdem ich meinen Brief abgeschickt hatte, erhielt ich ein Paket, das ich auf der Post abholte. Nachdem ich die amerikanischen Briefmarken begutachtet und den Poststempel untersucht hatte, öffnete ich das Paket langsam. Ruhig, dachte ich. Geduld. Ohne Geduld kommt man nirgendwohin. Als ich endlich die Schnur und mehrere Schichten Packpapier entfernt hatte, fand ich zu meiner Enttäuschung statt einer Zusammenfassung der Geschichte meiner Nächsten vier Kilo Informationsmaterial über die Genealogische Gesellschaft. Ich blätterte die Broschüren durch und erfuhr, dass die Mormonen überall auf der Welt Anhänger haben, die Nachrufe durchsehen und in den Lebensgeschichten der Menschen nachforschen, natürlich in aller Diskretion, um Auskünfte nach Salt Lake City zu schicken.
Am Ende fand ich noch einen Begleitbrief und einen weißen Briefumschlag. Der Brief war vom Leiter des Archivs unterzeichnet, der bedauerte, dass nur einer der angegebenen Namen sich in ihrem Register befand.
Ich riss den weißen Umschlag auf. Das erste, was ich sah, war eine fettgedruckte Überschrift:
»FRANZ SCHARF, AUCH FERNANDO GENANNT.«
Ich überflog die Seiten. Hier war auf knapp zehn dicht beschriebenen A4-Seiten ein komplettes Leben beschrieben, rund fünfundzwanzigtausend Tage und Nächte. Nichts von Bedeutung war ausgelassen worden, jede Phase im Leben meines Großonkels war dokumentiert. Bemerkenswert war der Stil, die Kargheit des Nachschlagewerks, die sich mit poetischen Formulierungen mischte.
Ich musste lächeln, als ich ans Ende des Dokuments gelangte. »Budapest, 27. Oktober 1962«, stand am Fuß der Seite.
Die einzige Einkommensquelle meines Großonkels war seine magere Rente. Aber er erzählte nie jemandem von seinen finanziellen Sorgen. Außer Großmutter. Er schuldete ihr mehrere tausend Forint. Was Geld betraf, so bezichtigte Großmutter ihn nie der Unzuverlässigkeit. Sie lächelte stets ein wenig nachsichtig, wenn er jeden Monat erklärte, er sei absolut sicher, bald mehrere hundert Dollar aus Amerika zu bekommen. Das war damals enorm viel Geld. Dann bat er darum, fünfzig Forint leihen zu dürfen. Sie sah ihn stets forschend an, wie um sich zu versichern, dass er seit seinem letzten Besuch nicht zu stark abgemagert war. Danach bewilligte sie ihm einen neuen Kredit, denn sie vermutete, dass er sonst nichts zu essen hätte.
Wir Kinder fanden meinen Großonkel geizig, denn er brachte uns nie Geschenke mit, nicht einmal zum Geburtstag. Aber er versprach uns zuweilen, mit uns in die Konditorei zu gehen, sobald er Geld für seine Schreibereien bekommen habe.
Einige Tage vor Weihnachten, es war im Jahr 1962, brachte er uns allen Geschenke mit. Die Weihnachtsferien hatten gerade angefangen. Sasha und ich lungerten zu Hause herum und wussten nicht, was wir in der freien Zeit anfangen sollten. Deswegen freute ich mich über Jules Vernes Roman
Zwanzigtausend Meilen unter dem Meer
, den mein Großonkel mir schenkte. Aber am meisten freuten wir uns über das herrliche und duftende Gebäck, das er aus Budapests vornehmster Konditorei, dem Café Gerbeaud, mitbrachte. Solche Köstlichkeiten kannten wir nicht und machten uns mit Heißhunger darüber her. Ich kann den süßen Geschmack noch immer auf der Zungenspitze fühlen.
Großmutter wirkte beunruhigt. Sie senkte ihre Stimme zu einem durchdringenden Flüstern und fragte ängstlich, woher Fernando das Geld bekommen habe.
»Amerika«, antwortete er. »Ich bin reich geworden.
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