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Das Elixier der Unsterblichkeit

Das Elixier der Unsterblichkeit

Titel: Das Elixier der Unsterblichkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabi Gleichmann
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Jungen. Vier von ihnen starben, bevor sie das zehnte Lebensjahr erreicht hatten. Salman, der Erstgeborene, wurde dafür umso älter; er lebte über dreihundertfünfzig Jahre.
    VI.) Moishe und Hasna arbeiteten viel zusammen. Sie versuchten, in jahrhundertealten religiösen Schriften gemeinsame Nenner zu finden und jüdische und arabische Mystik zu vereinen. Moishe war der Auffassung, man müsse einem Text unablässig neue Wahrheiten abgewinnen – dabei dachte er in erster Linie an die Thora und den Talmud, doch es galt ebenso für den Koran. Denn – wie er es ausdrückte – »die heiligen Texte enthalten viele verborgene Wahrheiten, die nur durch die Kommentare gewonnen werden können, die jede veränderte historische Situation verlangt«. Beide waren sich darin einig, dass die mystische Tradition nur durch neue Deutungen uralter Texte am Leben erhalten und zugleich verändert werden könne.
    VII.) Moishe und Hasna entwickelten auch eine umfassende Gesundheitslehre, die verschiedene Vorschriften über vegetarische Ernährung, enormen Knoblauchkonsum, Atemübungen und Reinigungen in Form regelmäßiger Einläufe beinhaltete. Aber beide litten häufig an Magen- und Darmkatarrhen und hatten eine graugrüne Gesichtsfarbe. Als drei ihrer Söhne an Darmverschlingung starben, gingen sie zu koscherer Ernährung über.
    VIII.) Alle hinterlassenen Texte Moishes enthalten Formulierungen von starker poetischer Kraft.
    IX.) Am Freitag, dem 2. Februar 1342, beendete Moishe sein Magnum Opus
Sefer ha-Zohar
(Das Buch vom Strahlenglanz). Erst im 19. Jahrhundert erkannten tonangebende Rabbiner die zentrale Stellung des Werks in der jüdischen Mystik und in der jüdischen Tradition der Schriftenauslegung.
    X.) Am Sederabend 1348 fühlte Moishe sich am ganzen Körper steif und kalt. In der Nacht schlief er unruhig und erwachte von einer brennenden Hitze. Am Morgen bekam er hohes Fieber und konnte nur schwer atmen. Er spie Blut und litt an Diarrhö. Er sah Hasna an und flüsterte: »Wer bin ich – oder wer bist du – in diesem allem? Im Talmud heißt es: Ich bin nur Staub, aber die Welt wurde für mich geschaffen!« Dann ging alles sehr schnell.
    Der Kabbalist – der Mann, der das Geschlecht de Espinosa in eine neue Richtung führte, vom Giftmord zur Philosophie – wurde eines von vierzig Millionen europäischen Opfern des Schwarzen Todes.

4.
DER ERZÄHLER

SALMAN DE ESPINOSA
    Eigentlich wollte ich von Salman de Espinosa erzählen, dem ältesten Sohn des Kabbalisten Moishe. Aber ich bin entsetzlich müde, und ich weiß nicht, warum. Ist es der Krebs oder sind es die Medikamente? Die Schmerzen machen mir Angst. Sie sind schwer auszuhalten. Um ihnen zu entfliehen, stopfe ich mich mit Medikamenten voll, die die Schmerzen dämpfen, mir aber gleichzeitig meine Kraft rauben. Eigentlich sollte ich still liegen und ruhen, sagt der Arzt. Aber ich habe nicht die geringste Lust, das zu tun. Mein Leben ist zu Ende. Das Pendeln zwischen Hoffnung und Verzweiflung geht über meine Kräfte. Deshalb lache ich, wenn mich zuweilen der komische Gedanke quält, dass ich noch ein oder zwei Jahre leben könnte. Ich versuche, die mir bleibende Frist zu nutzen und die Anekdoten über meine Familie wiederzugeben, wie sie mein Großonkel Sasha und mir erzählt hat, als wir Kinder waren.
    Als ich erwachsen wurde, hätte ich mich mehr für die Familie und ihre Generationenfolge interessieren sollen, zumal erwartet wurde, dass ich selbst sie fortsetzte. Aber ich wollte keine Kinder und bekam auch keine. In meinem Egoismus stellte ich mich taub, wenn Vater und Mutter von ihrem Leben erzählen wollten. Dann war es zu spät.
    Jetzt sitze ich in der Grabkammer der Erinnerung und versuche, das Vergangene, das schon vor langer Zeit meinen Gedanken entglitten ist, neu zu beleben. Ich finde Trost in den Geschichten, die ich hier niederschreibe.
    In der letzten Zeit sind mir die Anekdoten aus meiner Kindheit mit Leichtigkeit zugeflogen. Oft haben meine Finger auf der Tastatur mit den Erinnerungen kaum Schritt halten können. Aber heute ist jeder Satz eine Qual. Ich fühle mich eingeschränkt durch die mir bemessene Zeit und durch meine verminderte Leistungsfähigkeit. Eine eigentümliche Kraft, vielleicht eher ein Mangel an Kraft, sabotiert meine Anstrengungen. Ich versuche, den inneren Feind zu besiegen, aber er überlistet mich mit seinen Tricks.
    Salman de Espinosa. Es ist eine düstere Geschichte, aber sie ist auch erbaulich. Er war acht Tage lang ohne Unterlass

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