Das Elixier der Unsterblichkeit
Frau das gleiche Recht hätten, aus freiem Willen eine Liebesbeziehung einzugehen und sie zu beenden, wenn die Gefühle erkalteten.
Zwei Jahre später, im Juni, als der Schnee geschmolzen war und die Temperaturen über den Gefrierpunkt gestiegen waren, flohen sie gemeinsam zu Fuß aus dem Gefangenenlager. Es gelang ihnen, ihren Verfolgern zu entkommen, und sie lebten von Beeren und Wurzeln in der Wildnis. Bald trennten sich indessen ihre Wege. Bakunin floh nach Osten, gelangte nach Japan und von dort in die USA. Andrej wanderte nach Westen und erreichte nach zahlreichen Irrfahrten eines feuchten und nebelverhangenen Morgens Anfang Februar 1861 Budapest.
Den wahren Grund dafür, dass er Russland verlassen hatte, vertraute Andrej nie jemandem an, nicht einmal seinen Kindern oder seinen engsten Freunden. Sein ganzes Leben hindurch lehnte er es ab, über die Vergangenheit zu sprechen. Er pflegte zu sagen: »Darüber kann ich nichts erzählen. Diese Erinnerungen sind mir so fern. Und niemand würde mir glauben.«
Großmutter behauptete, sein Geheimnis zu kennen, und sie sprach es einmal unumwunden aus, als sie auf Fernando wütend war: »Der alte Scharf und seine Kumpane hatten eine Postkutsche mit Wertsendungen aus Sevastopol ausgeraubt und dabei einen Kutscher erschossen, deshalb musste er aus Russland fliehen. Ganz Budapest weiß es. Er hat es seiner Geliebten erzählt, als er im Sterben lag.«
Als Andrej mit einem kleinen Bündel über der Schulter nach Budapest kam, war er erst zweiundzwanzig Jahre alt, doch die beiden Jahre mit Bakunin waren nicht spurlos an ihm vorübergegangen. Er hatte wachsam spähende Augen und war neugierig wie ein Klatschweib. In Budapest kannte er niemanden, aber in seiner Tasche lag ein Zettel mit dem Namen eines Ungarn – eines gewissen Imre Herskovics –, der einige Jahre zuvor in einem Kurhotel in Marienbad Bakunin kennengelernt hatte und von dem Mann und seinen umstürzlerischen Ideen entzückt gewesen war.
Herskovics zog es stets in die Nähe von außergewöhnlichen und kreativen Menschen und deren Milieu. Der Anarchismus erfüllte den von der Gicht geplagten Ungarn mit einem starken Lebensgefühl, und bei seiner Rückkehr nach Budapest wollte er die Revolution in Szene setzen. Er hatte jedoch keineswegs vor, die Gesellschaft umzustürzen, er wollte nur gute Dramatik schaffen. Er betrieb nämlich in einem Vorort zusammen mit seiner Tochter, die dreißig Jahre alt und noch unverheiratet war, ein Theater.
Herskovics saß hinter seinem Schreibtisch und kratzte mit einem Gänsekiel über ein Blatt Papier, als der junge Russe in seinem Büro auftauchte. Andrej räusperte sich und sprach die einzigen ungarischen Worte aus, die er kannte – »Jó napot« (Guten Tag) –, aber der fettleibige Theaterchef reagierte nicht. Andrej legte sein Bündel auf den Boden und hob die Stimme. Die Hände in den Taschen und nonchalant an den Türpfosten gelehnt, sprach er in diffus lobenden Wendungen von Herskovics, den er zuvor noch nie getroffen hatte, und erklärte, Bakunin lasse ihn bitten, ihm zu helfen. Herskovics, der kein Russisch verstand, bekam Herzklopfen, nicht weil der Anblick eines hilfsbedürftigen jungen Mannes etwas Neues für ihn war, sondern aufgrund des magischen Klanges in Bakunins Namen. Der Theaterchef beobachtete den Besucher. Russen standen in dem fest etablierten Ruf, ein exzentrisches Benehmen an den Tag zu legen, und Andrej machte diesem Ruf alle Ehre. Herskovics fand es lustig, ihn reden zu sehen. Er wusste, dass theatralisches Talent in den sonderbarsten Verkleidungen auftreten kann, und bot Andrej auf der Stelle eine Statistenrolle in seiner nächsten Inszenierung an.
Drei Monate später war Andrej mit Herskovics’ Tochter verheiratet und hatte die Hauptrolle in einem neu verfassten Stück, obwohl sein Ungarisch miserabel war. Seine Frau erwartete ein Kind. Sie war eine Frau, die auf ihre anspruchslose Art und Weise alles Erdenkliche bewerkstelligte, nur fiel ihr nichts ein, womit sie ihren Mann glücklich machen konnte.
Die ewige Ungeduld und das Freiheitsbegehren des Mannes loderten in Andrej. Um seine Lust zu befriedigen, schaffte er sich schon am Tag nach der Hochzeit eine Geliebte an. Die Frauen schmolzen in seiner Umarmung dahin, wenn er in einer unverständlichen Sprache, die der von Engeln glich, liebevolle Worte flüsterte. Er betrieb seine erotischen Aktivitäten stets an mehreren Fronten und verwickelte sich in unzählige Komplikationen. Je mehr er sich
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