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Das Elixier der Unsterblichkeit

Das Elixier der Unsterblichkeit

Titel: Das Elixier der Unsterblichkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabi Gleichmann
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Jetzt kann ich dir endlich all das Geld zurückgeben, das du mir geliehen hast. Ich habe fünfhundert Dollar bekommen. Sie sind von den Mormonen. Ich habe ihnen meine Lebensgeschichte verkauft.«
EIN LIEDERLICHER ENGEL AUF DER BÜHNE
    Schenkt man dem Register der Mormonen Glauben, dann wurde der Großvater meines Großonkels als Andrej Scharf im Jahre 1839 in Smolensk am Fluss Dnjepr im westlichen Russland geboren. Sein Vater war Rabbiner, ein tiefreligiöser Mann mit graumeliertem Bart und schwarzen Stirnlocken. Die Mutter war Tochter eines Rabbiners in Vitebsk. Die Familie lebte in einem armen Teil der Stadt, wo der Vater ein Rabbinergericht gegründet hatte. Die Menschen in Smolensk kamen zu ihm, um Rat zu suchen, oder damit er Streitigkeiten klärte, die die Thoragesetze betrafen. Er traute auch Paare und bewilligte Scheidungen. Oft kamen die Armen nur zu ihm, um ihm ihr Herz auszuschütten. Der Rabbiner übte viele Tätigkeiten aus und erfuhr wenige Segnungen.
    Eines Tages, als Andrej zehn Jahre alt war, erzählte ein Nachbar, dass es in Moskau einen Aufruhr gegeben habe. Die Straßen seien voller Revolutionäre gewesen, die Brot für das Volk forderten. Sie träumten von einem Staat, in dem es weder Arme noch Reiche gab. Die Revolutionäre wollten auch den Zaren loswerden. Die Polizisten hatten die Demonstranten mit gezogenen Säbeln angegriffen. Da hatte jemand eine selbstgebastelte Bombe geworfen und zwei Polizisten getötet. Fünfzig Aufrührer waren festgenommen worden. Viele saßen immer noch im Gefängnis. Mehrere von ihnen waren Juden.
    Der Rabbiner schüttelte traurig den Kopf und erklärte, er wolle mit Rücksicht auf den Jungen von derlei Angelegenheiten nichts hören. Aber Andrejs Neugier war geweckt, und er träumte davon, Revolutionär zu werden.
    Eines Tages – er war inzwischen zwanzig Jahre alt – kam er zufällig an den Kohlengruben am Rande von Smolensk vorbei und sah, wie ein Vorarbeiter in schmutziger Uniform einen Achtjährigen mit der Peitsche schlug, weil der Junge den fünfzehn Stunden langen Arbeitstag nicht durchhielt. Andrej konnte diese Herzlosigkeit nicht verstehen, noch weniger sie vergessen. Drei Tage lang saß er in Gedanken versunken da. Sein Grübeln brachte ihn zu der Schlussfolgerung, dass der Mann, der die grausame Bestrafung durchgeführt hatte, nicht zu einer Minderheit von Sadisten oder geistesgestörten Personen gehörte, sondern ein normaler Repräsentant eines ungerechten und bösartigen Gesellschaftssystems war. Er beschloss, dazu beizutragen, den Alltag der Unterdrückten zu verbessern und für die Kinder der Leibeigenen in der Grube erträglichere Lebensbedingungen zu schaffen.
    Er besuchte mehrere Treffen der Revolutionäre, auf denen Männer und, zu seiner Verwunderung, junge Frauen lebhafte Diskussionen führten und Pläne entwarfen, wie das soziale und politische System in Russland mit Gewalt verändert werden könnte. Andrej meldete sich nur einmal zu Wort: Er warnte die Genossen davor, ein geschöntes Bild des Lebens nach der Revolution zu malen. Aber ein im Raum anwesender Polizeispion zeigte ihn an, und noch am selben Abend wurde Andrej verhaftet. Zwei Tage später wurde er wegen umstürzlerischer Aktivitäten zu fünfzehn Jahren Strafarbeit verurteilt und nach Magadan in Ostsibirien verbannt.
    Dort begegnete er Michail Bakunin. Der Vater des Anarchismus – dessen Name Kaiserreiche erzittern ließ – hatte eine nasale Stimme und ein seliges Lächeln, obwohl der Skorbut ihn aller seiner Zähne beraubt hatte. Er blickte Andrej tief in die Augen und erklärte, dass – wenn die im Volk schwelende Unzufriedenheit in revolutionäre Handlung umschlage und die alte Ordnung umgestoßen werde – eine neue Gesellschaft ohne Staat frei und gerecht erblühen werde. Wenn er von der Revolution sprach, betonte er das Moment des Kampfes. Als Endziel sah er eine Art kollektiver Diktatur vor sich, in der alles auf Freiwilligkeit beruhte und die Menschen von allen Forderungen nach Ordnung und Unterwerfung frei sein würden. Anschließend überreichte er dem jungen Mann eine seiner Schriften in Gestalt eines Manuskripts.
    Versunken in die Lektüre, vergaß Andrej den eiskalten Winter um sich her. Als er die Schrift niederlegte, wusste er, dass er Bakunin folgen wollte, und sah sich in der Zukunft eine wichtige Rolle als Provokateur spielen, als ein Mann, der bei den Massen die revolutionäre Glut entfachte. Am meisten faszinierte ihn Bakunins Gedanke, dass der Mann und die

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